Nicht vergessen!


Nicht vergessen!

Am Anfang war es nur ein kleiner Zettel. Ein kleiner gelber Zettel mit der Aufschrift: Nicht vergessen, Opa anrufen!
Der klebt gelb leuchtend am Kühlschrank. Der Kühlschrank ist schließlich ein Ort, an den sie jeden Tag zwangsläufig schauen müssen. So hatten sie sich das jedenfalls gedacht. Und dann würden sie endlich eine freie Minute finden und Opa anrufen. Der hatte nämlich Geburtstag und sie hatten keine Zeit gefunden, um hinzufahren. Zu viele Termine, zu viele Aufgaben, zu viel Stress.
Und schließlich war es ja auch kein besonderer Geburtstag, nur ein ganz normaler mit Kaffee und Kuchen in kleiner Runde. Da ist es nicht so schlimm, denken sie sich. Nein, es ist schon in Ordnung, dass sie nicht hingefahren sind, sie wollten ja anrufen. Und dann einfach am Telefon das Kaffeetrinken sozusagen nachholen.
Das ist jetzt schon eine ganze Weile her.
Und der Zettel klebt immer noch am Kühlschrank: Nicht vergessen, Opa anrufen!
Und wenn sie den Kühlschrank aufmachen, dann ist der gelbe Zettel schon ganz normal geworden. Er gehört quasi dazu.
Die Schrift auf dem Zettel verblasst.
Die Erinnerung verblasst.
Die Erinnerung wird vergessen.

Opa erinnert sich täglich an seine Enkelin. Und ihren Mann und die Urenkel. Sie fehlen ihm. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie zu seinem Geburtstag gekommen wären. Er hätte ihnen seine neue Wohnung gezeigt und die Wand, an der er die gesammelten Werke seiner Urenkel aufgehängt hatte. Bunte Bilder mit lachenden Mündern und einer großen Sonne. Ein neues großes, hatten sie ihm zu seinem Geburtstag geschickt.
Er kann es verstehen, dass sie nicht gekommen waren. Die Arbeit und der ganze Alltag sind schwierig zu bewältigen. Und dann die 300km nur für ein Kaffeetrinken zu fahren, das ist viel verlangt.
Zu viel.
Traurig ist er trotzdem.
Telefonieren wollen sie auf jeden Fall, das haben sie abgemacht.
Aber wann war das nochmal? Und wann war eigentlich sein Geburtstag gewesen? Wie walt war er geworden? Und welcher Tag war heute eigentlich?
Opa sitzt oft auf seinem Sessel und fragt sich alle diese Fragen.
Er versucht so gut es geht in seinem Kalender festzuhalten, was an welchem Tag passiert. Aber immer wieder weiß er nicht einmal mehr welcher Monat eigentlich ist.
Er schaut auf seinen Kalender.
Die Schrift verblasst.
Die Erinnerung verblasst.
Die Erinnerung wird vergessen.

Sie kommt einmal die Woche vorbei, schaut nach den Bewohnern und Bewohnerinnen. Klopft an die Türen und setzt sich für ein paar Minuten. Manchmal wird es auch eine Stunde. Was sie besprechen bleibt unter ihnen. Wenn sie geht, dann lächeln manche wieder ein wenig. Manchmal strahlen sie förmlich. Oft sieht man aber auch die Tränen in den Augenwinkeln und das Taschentuch in der Hand.
Sie ist die gute Seele des Hauses sagen sie.
Opa spricht nicht oft mit ihr. Das ist nicht so sein Ding. Er hat nie viel geredet, schon gar nicht überflüssiges. Diesen Nachmittag hat er sie aber hereingelassen. Sie haben Kaffee getrunken und über die Bilder seiner Urenkel an der Wand geredet. Zum Geburtstag hat sie ihm auch noch gratuliert und ein kleines Geschenk mitgebracht.
„Sie müssen das nicht lesen, ist nur ein Standardgeschenk.“ sagt sie und zwinkert ihm dabei zu.
Über seine Jugend haben sie gesprochen, die Zeit auf dem Hof seiner Eltern. Die Zeit als es schwierig war etwas zu essen zu finden. Begeistert hatte er von den alten Freunden erzählt. Die Namen sind alle noch da, jeder Streich, den sie im Dorf gespielt hatten.
Die Namen seiner Urenkel sind nicht mehr da. Er überspielt das und nennt irgendwelche Namen. Sie weiß das ja nicht.
Und er lächelt, als wäre nichts.
Abends schaut er dann doch in das kleine Buch, das Standardgeschenk. Er überfliegt die Seiten, bis zu einem Vers:
Erinnere dich an deine Zuneigung Gott, an deine Freundlichkeit, die waren immer schon da. An die Verfehlungen meiner Jugend und an meine Vergehen erinnere dich nicht. Weil du freundlich bist, erinnere dich an mich, du!
Tränen tropfen auf das Papier.
Die Schrift verblasst.
Die Erinnerung verblasst.
Die Erinnerung wird vergessen.

An diesem Sonntag scheint die Sonne hell in die Küche. Sie strahlt so gelb wie der Zettel am Kühlschrank. Und nachdem sie gefrühstückt haben setzen sie sich alle zusammen und wählen Opas Nummer. Sie reden über das Wetter und dass sie alle mal wieder zusammen spazieren gehen müssen. Die Urenkel erzählen von ihren Abenteuern auf dem Spielplatz und Opa von seinem neuen netten Nachbarn. Sie trinken Kaffee, jeder am anderen Ende des Hörers. Sie sitzen zusammen und teilen ihr Leben miteinander. Sie schaffen neue Erinnerungen und sprechen über vergangene. Ihr fällt auf, dass Opa Namen durcheinander bringt. Und einmal nennt  er sie wie ihre Mutter. Das kann schon mal passieren denkt sie sich.
Am Ende machen sie aus, dass sie nächsten Sonntag wieder telefonieren. Der gelbe Zettel bleibt am Kühlschrank kleben.

Die Woche vergeht. Sie sitzen wieder alle zusammen und wählen Opas Nummer. Sie warten. Und warten. Vielleicht ist er bei dem schönen Wetter spazieren gegangen?

Opa hört das Klingeln von ferne. Er sitzt im Sessel. Die Augen geschlossen, das Gesicht zum Fenster. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht. Er lächelt. Das Telefonklingeln wird immer leiser. Das Licht wird immer und immer heller.

Am Kühlschrank kleben jetzt viele gelbe Zettel. Nicht vergessen: Blumenkranz bestellen! Nicht vergessen: Traueranzeige aufgeben! Nicht vergessen: Bild von Opa an den Bestatter schicken!
Es sind so viele Zettel, sie wissen gar nicht, woran sie sich zuerst erinnern sollen. Es ist so viel zu organisieren.
Sie stehen vor dem Kühlschrank und können nur weinen. Sie nehmen sich in die Arme. Sie halten sich aneinander fest.
Und ihr Blick fällt auf den alten gelben Zettel: Nicht vergessen, Opa anrufen! Sie wird wütend. Auf sich selbst. Warum haben sie nicht öfter angerufen? Warum nicht öfter die Zeit genutzt? Warum war die Arbeit wichtiger? Sie zerknüllt wütend den alten gelben Zettel.
Die Schrift ist verblasst.
Die Erinnerung verblasst.
Die Erinnerung wurde vergessen.

Das Kind sitzt neben seinem Bruder. Es ist kalt und die schwarze Jacke kratzt auf der Haut. Überhaupt fühlt es sich unwohl in diesen dunklen Klamotten in diesem kalten Raum. Alle Menschen sind traurig und viele weinen. Die Mama und der Papa auch.
Das Kind schaut auf den großen Holzkasten. Da liegt Opa drin, haben sie gesagt. Ganz viele Blumen hat Opa bekommen. Ob er die wohl schön findet?
Neben dem Holkasten steht ein Mann, der auch etwas Schwarzes an hat.  Der Mann in schwarz erzählt, dass wir Menschen immer wieder Fehler machen, auch mal böse sind und falsch handeln.

Das Kind erinnert sich an letzte Woche, als es seinem Freund im Kindergarten die Schaufel weggenommen hat und später behauptet hat, dass es gar nicht so war. Und es erinnert sich an Opa, der ihm von den Streichen aus seiner Kindheit erzählt hat.
Die Mutter erinnert sich an den gelben Zettel, dass sie nie angerufen haben. Der Vater erinnert sich an die Unlust 300km mit dem Auto zu fahren, nur um Kaffee zu trinken.

Der Mann in schwarz redet jetzt über Opas Leben, als Opa auch mal Kind war.
Und er redet über ein anderes Kind. Das ist von seinem Vater in die Welt geschickt worden, um die Menschen zu retten. Wie so ein Superheld denkt das Kind.
Ein Superheldenkind, das die rettet, die das Licht mehr mögen als die Dunkelheit.
Klar, denkt das Kind, das viel lieber im hellen, als im dunklen einschläft. Es denkt an die vielen Lichter zu Weihnachten und an Opas alte Lampe, die sie immer zum Vorlesen angemacht haben.
Das Superheldenkind wird also auch sie retten, das ist gut.
Es ist still um das Kind herum.
Das Kind blickt auf den Sarg und auf die Wand dahinter.

An der Wand hängt ein großes Kreuz.
Das Superheldenkind hängt an ihm.
Es stirbt.
Es schreit vor Trauer und vor Verzweiflung.
Der Tod ist auch für ihn unfassbar.

Die Kerzen vor dem Kreuz leuchten.
Die Sonne strahlt herein.
Sie strahlt auf das Kreuz und auf den Sarg.
Der Sarg leuchtet.
Und ganz hinten an der rechten Ecke leuchtet er besonders.

Da klebt ein kleiner gelber Zettel.
Nicht vergessen:
Opa wir lieben dich und rufen dich jeden Sonntag an!

Die Schrift verblasst nicht.
Die Erinnerung bleibt.
Die Erinnerung wird nie vergessen werden.

Amen

Gehalten am 17. März 2019

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