Opferlamm


Opferlamm

Es war einmal ein Lamm.
Es lebte auf einer Wiese mit grünem Gras und kleinen Gänseblümchen und großen Löwenzahn.
Die Wiese lag auf einem Deich direkt an der Nordsee und über ihm kreisten und kreischten die Möwen. Tagein Tagaus. Bei Ebbe, bei Flut.
Die Möwen hießen alle Emma.
Das Lamm hieß Herbert.
Herbert war das süßeste Lamm, das die Welt je gesehen hatte. Es hatte große braune Augen und ein sehr, sehr weiches Fell. Den ganzen Tag sprang es über den Deich mit seinen kleinen, ungelenken Beinchen und mampfte ab und zu ein Büschel Gras. Es sah aus, als ob es direkt aus der besten Nordsee, Käse, Milka oder sonstigen Werbung gesprungen wäre und jeder liebte Herbert das Lamm mit den großen braunen Augen und dem sehr, sehr weichen Fell.
Und jede tat das natürlich auch.
Kleine Kinder fielen auf die Nase bei dem Versuch das sehr, sehr weiche Fell zu streicheln und große Menschen zückten ihre Smartphones und schrieben ihren Liebsten zuhause von den großen braunen Augen und dem sehr, sehr weichen Fell.
Dann gingen sie weiter und kauften ihren Kindern im nächsten Souvenirshop ein kleines Stofflamm, das natürlich nur halb so weich war wie Herbert und auch längst nicht so große braune Augen hatte.
Kurzum, Herbert liebte sein Leben. Und alle liebten Herbert.
Er war ein glückliches Lamm auf einer Wiese mit Blümchen und vielen Möwen namens Emma als Freunde, die ihm ab und zu ein von Touristen geklauten Hot Dog vorbeibrachten.
Das Lamm Herbert war glücklich.
So glücklich, wie man eben nur sein kann mit so großen braunen Augen und sehr, sehr weichem Fell.
Und wenn es nicht gestorben ist, dann...
Ja und hier kommt der Knackpunkt, der Turningpoint, denn das Wörtchen WENN will in diesem Satz sehr betont werden.
Wenn es nicht gestorben wäre...
Wenn nicht eines Tages die Besitzerin von Herbert auf den Kalender gesehen hätte und sah: (mit natürlich nicht so großen braunen Augen und natürlich auch nicht so sehr, sehr weichem Fell – aber ich schweife ab): sie sah: in ein paar Wochen ist Ostern!
Ostern das Fest der bunten Eier. Ostern das Fest wenn die Touristen auf die Insel strömen und Eierlikör trinken und die Kinder nach Eiern im Sand buddeln – Ostern ein Fest zum Freuen und feiern – Ostern ein Fest des Lebens – für ALLE!
Außer für Herbert.
Herbert, unser Lamm mit den großen braunen Augen und dem sehr, sehr weichen Fell wusste nicht was Ostern ist und würde es wohl auch nie erfahren.
Denn Herbert war ein Osterlamm.
Also genau jenes Lamm, das Ostersonntag bei den Touristen auf den Tellern liegt wenn die Kinder Schokolade mampfen und die Erwachsenen sich auf die schöne Ostertradition zuprosten. Frohe Ostern euch allen!
Frohe Ostern Herbert, wo sind denn jetzt deine großen braunen Augen, wo ist denn jetzt dein sehr, sehr weiches Fell? Hängt es vielleicht dort am Garderobenhaken als schöne neue Fleecejacke aus echter Schafswolle aus dem gut sortierten Outdoorladen? Wenn Herbert nicht gestorben wäre, dann gäbe es Ostersonntag nur Salat. Wenn Herbert nicht gestorben wäre, dann müsste man so so ohne Fleecejacke ganz schön frieren. Wenn Herbert nicht gestorben wäre, dann lebte er noch heute. Tut er aber nicht!
Die Wiese am Deich ist leer. Die Emmas sind traurig und hocken deprimiert im Watt. Keine großen braunen Augen, kein sehr, sehr weiches Fell mehr. Die Emmas klagen und schreien: Warum? Warum hast du uns verlassen? Warum, ja warum nur..
Warum dies grausame Ende für ein Lamm aus einem Nordseebilderbuch?
Wo war der rettende Prinz auf dem weißen Pferd? Wo war der sensible Schlachter der den großen braunen Augen einfach nicht widerstehen konnte? Wo waren die veganen Aktivisten, die Herbert befreien und bei sich aufnehmen? Herbert, das Lamm war doch vollkommen unschuldig! Es hatte nie irgendjemandem etwas getan, es hatte sich streicheln lassen, es hatte für Fotos posiert, es war das lebendige Klischee für alle Touristen und hatte nie auch nur einmal gemeckert. Ok. Gut, gemeckert hatte es, aber das liegt ja in der Natur der Sache. Ach nee, das sind ja Ziegen, aber ich schweife schon wieder ab. Das Lamm Herbert hat die Welt ein Stück besser gemacht! Herbert hätte die Welt retten können, mit seinen großen braunen Augen und dem sehr, sehr weichen Fell.
Herbert hatte diesen Tod nicht verdient!
Es war doch noch so klein und unschuldig und süß. Und hatte sich nicht gewehrt, nicht einmal als der Tag kam und der weiße Lieferwagen und Herbert einfach betäubt und mitgenommen wurde.
Herbert wehrte sich nicht, und das liegt nun wirklich in der Natur seiner Sache. Lämmer wehren sich nicht, sie sind so programmiert in ihren Genen. Das ist halt so. Das war schon immer so. Darum galten sie früher auch als die höchst langweiligen Geschöpfe. Und werden bis heute gegessen ohne Ende. Aber ich schweife schon wieder ab. Herbert war nur eines von über einer Milliarden Schafe auf der Welt. Eine Milliarden Schafe! Und wie viele davon werden getötet, und wehren sich nicht. Herbert war nur einer von vielen. Herbert war eines von vielen, eines von vielen und nun wage ich dieses Wort zu verwenden: OPFERLAMM.
Herbert wurde geopfert, Herbert hat sich geopfert.
Wofür? Warum? Wieso? Weshalb? Wozu?
Warum mussten diese große braunen Augen sterben? Warum musste ihm das sehr, sehr weiche Fell über die Ohren gezogen werden?
Warum mussten seine Emmas ihren besten Freund verlieren?
Warum frage ich euch Warum?
Ich weiß es nicht, ich frage mich das auch. Ich mag Happy Ends, ich mag keine solchen Geschichten. Ich bin nicht mal Vegetarierin, wobei Lammfleisch esse ich tatsächlich nicht, aber ich schweife zum letzten Mal ab. 
Herbert war ein Opferlamm.
Herbert das Opferlamm. Dass sich geopfert hat für. Für.
Ja, für was eigentlich? Oder für wen?
Herbert war auf einem Teller gelandet. Er hatte seine großen braunen Augen und sein sehr, sehr weiches Fell geopfert. Für ein Mahl. Für eine Tradition. Für Ostern. Für den merkwürdigen Brauch ein Lamm zu essen in Erinnerung an ein anderes Lamm, das sich geopfert hat. Wie verrückt, wie absurd. An einem Fest, das feiert, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. An einem solchen Fest sterben Lämmer und werden gegessen! Verrückt, Absurd, ein sehr schiefes Bild.
Und wenn ich das jetzt weiter denke, dann hat Herbert sich für etwas geopfert. Für etwas, für eine Begierde, für einen Lebensstandard, für Traditionen, die nicht mehr hinterfragt werden. Für einen kurzen Moment, der schnell wieder vergessen ist. Für Genuss. Für Luxus. Für den Egoismus auf dem eigenen Teller. Der nur an sich denkt. Der nur daran denkt, dass es einem selber gerade gutgeht. Für all das hat sich Herbert geopfert.
Und wenn ich so darüber nachdenke, dann ist er vielleicht doch gar nicht so anders als sein Vorgänger. Wie das Opferlamm, dem er das alles eigentlich erst zu verdanken hat.
Geschichte wiederholt sich. Die Menschen verändern sich nicht.
Auf ihrem Teller spiegelt sich ihre Selbstverliebtheit. Auf dem Teller mit Lamm spiegeln sich Traditionsversessenheit der Stillstand.
Opferlamm trifft Opferlamm.
Geopfert für uns.
Für unsere Begierden.

Und wenn Herbert nicht gestorben wäre...
Dann gäbe es heute auf seiner Insel kein Denkmal von ihm. Dann würden nicht tausende Touristen jedes Jahr zu ihm pilgern und Blumen ablegen. Dann hätten die Emmas nicht angefangen jedes Jahr den weißen Lieferwagen zu attackieren und zu verhindern, dass je wieder ein Lamm sein Leben beenden müsste wie Herbert. Dann gäbe es keine weltweiten Bewegungen und Stiftungen, die nach Herbert benannt wurden. Herbert Foundation. Herbert Charity. Herbert Memory. St. Herbert Memorial Foundation. Herbert Stiftung. Lamm des Jahres Preis. Dann hätte die Kirche nicht verkündet, dass diese Osterlammtradition doch jetzt mal vorbei sein sollte weil das Bild schon immer schräg war.
Herbert wurde eine Legende.
Herbert das Opferlamm zeigt, dass es so nicht weitergehen kann.
Herbert das Opferlamm schreibt die Geschichte weiter.
Herbert hat die Welt ein Stückchen besser gemacht.
Geschichte wiederholt sich.
Und ich bin mir sicher, Herbert das Lamm, mit den großen braunen Augen und dem sehr, sehr weichen Fell hüpft heute auf Wiese.
Mit allen anderen Opferlämmern.
Gemeinsam vereint.
Opferlamm und Opferlamm.
Denn weil sie (für uns) gestorben sind, leben sie noch heute. 

Der Slam als Video:

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