Hand im Nichts
Da
sitzen sie nun. Drei Männer an einem Tisch. Mit ihren Händen halten sie sich an
den Kaffeetassen fest und schauen in die dunkle braune Brühe. Ja, Brühe. Er
schmeckt nach nichts. Nichts.
Das
Nichts ist über die drei Männer hereingebrochen. Es hat sie dazu gebracht die
guten schwarzen Anzüge aus der hinteren Ecke des Schranks hervorzukramen. Bauch
einziehen, dann passt das schon noch. Die Krawatte wurde mit zittrigen Fingern
umgebunden. Schwarzer Mantel und bloß nicht den Regenschirm vergessen. Der
Himmel sieht grau aus, es wird bestimmt regnen. Wie sollte es auch nicht!
Sonnenschein wäre nicht passend. Nicht passend für das Nichts.
„Möchten
Sie noch ein Stück Butterkuchen?“ Die Männer schrecken hoch. Ja, danke. Nein,
danke für mich nicht. Betreten kaut einer nun auf dem knirschenden Zucker
herum. Die Blicke werden wieder gesenkt. Das Nichts drückt die Köpfe und lähmt
die Zungen.
Die
Regenschirme stehen tropfend an der Garderobe. Natürlich hat es geregnet. Sie
standen am Grab und der Regen prasselte auf sie nieder. Auf die schwarzen
Gestalten. Auf das Nichts. Als die drei Männer nacheinander zum Grab gingen, um
sich zu verabschieden, da waren sie allein mit dem Nichts vor ihnen. Mit nasser
Erde an den Schuhen und nasser Erde im Grab.
Erde
zu Erde.
Auf
einmal stellt der erste mit einem lauten Klirren seine Kaffeetasse ab und hebt
den Blick. „Es gibt einfach nichts Schlimmeres als Beerdigungskaffee! Diese
trübe Brühe macht das alles nur noch schlimmer. Wenn wir schon feststellen
müssen, dass einmal alles vorbei ist, dann könnte es doch wenigstens guten
Kaffee geben!“ Kurz herrscht irritierte Stille. Die Menschen am Nebentisch
gucken rüber. Und dann fängt der zweite an zu lachen. Und der dritte auch. Er
hebt seine Tasse: „Auf den schlechtesten Kaffee! Und auf uns, die wir hier heute
zusammen sitzen und immerhin noch schlechten Kaffee trinken können.“ Die drei
Männer stoßen an. Nehmen einen Schluck und schütteln sich.
„Einmal
ist alles vorbei.“ murmelt der erste. „Einmal. Und vielleicht schon morgen. Wer
weiß das schon? Manchmal denke ich, ich würde es gerne wissen. Wie viel Zeit
ich noch habe. Dann könnte ich mir eine Liste machen und alles erleben, was ich
noch erleben will. Reisen, Bücher lesen, einmal von einer Klippe springen. Dann
müsste ich mit meiner Frau nicht mehr über den Abwasch streiten. Wenn ich
wüsste, ich muss ihn sowieso nur noch zwei Jahre machen, dann wäre das schon in
Ordnung. Ich könnte einfach leben und genießen und alles auskosten. Und dann
wäre es schon in Ordnung wenn ich sterbe. Bis dann alles vorbei ist. Und dann
könnt ihr bei meiner Beerdigung mit schlechtem Kaffee anstoßen: Auf den, der
sein Leben so gelebt hat, wie er es wollte!“
Der
erste hebt seine Tasse. Doch die anderen beiden heben ihre nicht.
„Wie
du es wolltest. Das klingt ja ganz schön, was du dir da so vorstellst. Aber
woher willst du denn die Zeit nehmen und das Geld? Das Leben ist doch kein
Wunschkonzert. Selbst wenn du wüsstest, wann du stirbst. Dann hättest du doch
nicht auf einmal nur noch Freizeit! Das Leben ist eben nicht schön und erfüllend.
Wenn ich wüsste, wann ich sterben muss, dann würde ich in Panik verfallen. Denn
ich würde keine Zeit finden mein Leben nur noch zu genießen. Carpe Diem! Von
wegen. Dann kommt doch wieder ein wichtiger Termin, dann stirbt unser bester
Freund und dann bekomme ich die Grippe. Dann sterben die Bienen aus und es ist
viel zu heiß im Sommer. Jeder Tag bringt doch nur neue schlechte Nachrichten.
Wo sollte ich da die Zeit finden mein Leben zu genießen? Ich würde mich nur
ärgern den ganzen Tag. Und dann kommt der Tag, an dem ich sterbe. Und ich habe
nichts geschafft. Und dann ist alles vorbei. Und dann könnt ihr bei meiner
Beerdigung mit schlechtem Kaffee anstoßen: Auf den, der sich sein Leben lang
geärgert hat und jetzt endlich damit aufhören konnte!“
Der
zweite hebt seine Tasse. Doch die anderen beiden heben ihre nicht.
„Jetzt
sei doch nicht so pessimistisch! Ja klar ist die Welt furchtbar und es gibt
Leid und blöde Schicksale. Aber da kann ich ja wenigstens versuchen für mich
das Beste daraus zu machen! Wenn am Ende sowieso alles vorbei ist. Wer soll da
was dagegen haben?“
Bisher
hat der dritte geschwiegen und auf dem knirschenden Zucker des Kuchens
herumgekaut. Nun wischt er sich den Mund ab und schaut die anderen beiden an.
„Wer
da was dagegen haben soll? Glaubt ihr denn nicht, dass wir einmal die Quittung
bekommen? Für all das, was wir hier machen in unserem Leben? Wir leben nicht
alleine hier. Wenn du von der Klippe springen willst, meinetwegen. Aber du
solltest dein Leben nicht nur nach deinen Wünschen gestalten. Gibt ja noch
andere mit Wünschen! Und du solltest dich auch nicht nur ärgern, damit hilfst
du ja auch niemandem, am wenigsten dir selber!“
Der
erste und zweite schauen sich an. Setzen sich auf und verschränken die Arme.
Was soll das denn jetzt? Wie kommt denn der Herr Moralapostel auf einmal an den
Tisch? Sollen wir auf deiner Beerdigung mal anstoßen, auf den, der den anderen
ein schlechtes Gewissen gemacht hat?
„Warum
eigentlich nicht? Wenn es euch dazu bringt euer Leben nicht nur nach euch auszurichten,
dann mache ich euch gerne mal ein schlechtes Gewissen! Ihr beide habt in den
letzten Monaten doch höchstens einmal angerufen. Mal kurz gefragt wie es ihm
denn nun geht. Ob nicht doch noch eine Chance auf Heilung besteht. Du hast
immer wieder was von neuen medizinischen Erkenntnissen geredet. Und du, du hast
betont, dass es ja dann auch ganz gut ist, wenn das Leid ein Ende hat. Aber hat
einer von euch beiden mal gefragt wie es ihm geht? Wirklich geht? Was er denkt?
Über das Leben und das Sterben? Ob er Angst hat? Ob er sein Leben genug gelebt
hat? Ob er sterben will? Oder überhaupt, was er will? Ihr denkt doch nur an
euch. Und vergrabt euch hinter euren Vorstellungen und Meinungen über das
Sterben. Und in Wahrheit habt ihr doch auch einfach verdammte Angst.“
Der
dritte ist ganz rot im Gesicht geworden. Er schaut den anderen beiden in die
Augen. Doch die weichen seinem Blick aus. Für einen Moment herrscht Stille am
Tisch. Keiner rührt mehr im Kaffee. Das Nichts hat sich über den Tisch gelegt.
Grau, wie die Tischdecke.
„Ja.
Ich habe Angst. Ich habe Angst, dass einmal alles vorbei ist und dass ich dann
auch noch die Quittung bekomme. Darum denke ich lieber an mein Leben zuerst und
an das, was ich will. Ja, ich habe Angst, dass ich die Zeit in meinem Leben
nicht genug nutze. Dass ich nicht jede Minute auskoste und dann ist alles
vorbei. Ich habe Angst vor dem Tod. Weil mir dieses Nichts Angst macht. Das,
was ich mir nicht vorstellen kann. Und nicht vorstellen will.“ Der erste schaut
den dritten jetzt direkt in die Augen.
„Ich
will das auch nicht. Ich will nicht, dass mein Leben sich nicht gelohnt hat.
Ich will nicht alles verpassen, weil ich mich immer über alles ärger. Weil ich
mir so viele Sorgen mache! Da hilft es mir zu sagen, dass eben alles schlecht ist.
Und dass es gut ist, wenn es irgendwann vorbei ist. Das ist mein Schutz. Meine
Flucht aus der Angst vor dem Tod. Denn wenn es gut ist, irgendwann zu sterben,
dann wird auch die Angst kleiner.“ Der zweite lehnt sich zurück und nimmt seine
Tasse schützend in die Hände. „Hast du denn gar keine Angst?“
Der
dritte zuckt mit den Schultern. „Ja und Nein. Ich weiß es nicht. Mal ja und
dann wieder nicht. Natürlich fürchte ich mich vor dem Tod, denn ich weiß nicht,
wie das sein wird. Das weiß niemand. Aber mir hilft es, dass es an dieser Stell
nicht ums Wissen geht. Denn das ist eben nicht möglich. Wir können so vieles
wissen heute. Aber wie es ist zu sterben. Was passiert wenn wir gestorben sind.
Das können wir nicht wissen. Und anstatt dieses Unwissens, da kann ich meine kleine
bescheidene Vorstellung setzen. Meine Vorstellung vom Nichts, was dann gar
keins mehr ist.
Ich
habe mit unserem Freund vor seinem Tod viel darüber geredet. Was er glaubt, was
kommt. Und ob er mit seinem Leben zufrieden ist. Und er hat mir gesagt, dass es
auf der einen Seite für ihn gut ist, es eben nicht in der Hand zu haben wie
lange er hier mit uns leben darf. Und auf der anderen Seite es in der Hand zu
haben, wie er lebt. Was er tut. Wie er handelt. Ob er sich nur ärgert oder von
Klippen springt. Ob er nur an sich oder auch an andere denkt. Sozusagen der
Gedanke von der Lebensquittung. Als Anreiz.
Und
dann die Befreiung zu haben über das Ende des Lebens nicht zu entscheiden. Das
in eine andere Hand abzugeben. Und ich glaube er hat auch sehr gehofft, dass
diese Hand nach dem Tod bei ihm bleibt.“
Der
erste hebt seine Hände und schaut auf die Innenflächen. Die gezeichneten
Linien, die verworrenen Striche.
„Ich
habe mein Leben auf der einen Seite in der Hand und auf der anderen Seite darf
ich es in andere Hände legen. … Ich wusste gar nicht, dass unser Freund so
philosophisch war!“
Die
drei Männer beginnen zu lächeln. Er war so vieles. Der erste nimmt die
Kaffeekanne und schenkt allen dreien voll ein. Dann hebt er seine Tasse:
„Auf
den, der jetzt bei den anderen Händen gut aufgehoben ist! Und auf uns, die wir
unser Leben in unserer Hand haben. Auf unsere Lebensquittungen! Auf das, was
kommt, wenn es so weit ist! Auf wartende Hände! Auf uns!“
Feierlich
stehen die drei Männer auf. Drei schwarze Anzüge werden glatt gestrichen. Drei
Kaffeetassen gehoben. Das Nichts hat sich verzogen. Die drei lachen und stoßen
an:
„Auf den schlechtesten
Kaffee in unseren Händen!“
Amen.
Gehalten am 17.11.2019
Inspiriert von: Psalm 50, Hiob 14 und Römerbrief 14
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