Ich will über Unordnung reden


Eigentlich sollte ich heute über Ordnungen reden.
Zumindest wird mir vorgeschlagen heute über den Sinn von Ordnungen zu reden. Von denen, die die biblischen Texte für heute ausgesucht haben. Von denen wird mir nahe gelegt über den Sinn von Gottes Ordnungen nachzudenken.

Heute am 3. November 2019 sollte ich eigentlich über Ordnungen reden.
Heute am 3. November 2019 kann ich nicht über Ordnungen reden.
Ich kann und will nicht über Ordnung reden.

Ich will über Unordnung reden!

Unordnung. Durcheinander. Chaos.

Im Chaos steht eine erboste Mutter in der Tür. Inmitten von Duplo-Steinen, Bauklötzen, Stiften, Klamotten, Kuscheltieren und Kekskrümeln. In einem Zimmer in dem der Fußboden nicht mehr zu sehen ist und alles durcheinander fliegt. Tohuwabohu. Ein weinendes Kind irgendwo dazwischen. Motzend. Trotzend. Mit dicken Krokodilstränen auf den Wangen.
Und in der Tür die erboste Mutter. In der Hand einen gelben Sack.
Im Mund die Drohung: Wenn du dein Zimmer jetzt nicht aufräumst, dann schmeiße ich alles. Wirklich alles, was auf dem Fußboden liegt in diesen Sack!
Dann ist alles weg, was du magst.
Dann ist alles weg.
In diesem Chaos kann doch kein Mensch leben!

Doch. Das Kind weint und schreit: Ich kann hier leben!
Was spricht dagegen zwischen Bauklötzen und Kuscheltieren zu leben? Was spricht dagegen die Kekskrümel in den Teppich einzuarbeiten? Was spricht dagegen wenn ich mir manchmal den Fuß an einem Duplo Stein stoße? Was spricht dagegen im Chaos gut leben zu können?
Das Kind sieht gar kein Chaos.
Es lebt gut in seiner Welt.
Von seiner Seite aus ist alles in Ordnung.

Alles in Ordnung. Hier auf meiner Seite.
Alles in Ordnung. Hier bei mir.
Alles in Ordnung. Hier in meiner kleinen Welt.

Auf der anderen Seite. Ist nichts in Ordnung.
Auf der anderen Seite. Ist Chaos.
Auf der anderen Seite. In der großen weiten Welt.

Ich will über Unordnung reden.

Über Sprachordnung.
Auf den Kopf gestellt. Unsagbares wird sagbar. Sagbares wird unsagbar.
Das darf man nicht sagen, sagen die einen. Ich darf sagen, was ich will, sagen die anderen.
Wenn du das sagst, dann verklage ich dich!
Wenn du das sagst verhindere ich, dass du überhaupt je wieder was sagst!
Wer sagt denn das?
Was ist noch Meinungsfreiheit? Was ist einen Schritt zu weit?
Namen. Thomas de Maiziere, Christian Lindner, Björn Höcke. Sie sollen nicht reden.
Finden die einen. Sie hindern sie daran. Sie finden das ist nicht in Ordnung, wenn die reden.
Sie blockieren die Türen oder schreien dagegen an. Schreien: Das ist nicht in Ordnung!
             
Sowas sagt man nicht sagt die Freundin zum Freund. Warum nicht? Wer sagt denn das?
Das ist nicht in Ordnung. Für mich schon. Für mich nicht.
Streit um Sprache. Streit um Sprachmacht.
Wer sagt denn das? Wer hat das Sagen? Wer hat die Macht?

Ich will über Unordnung reden.

Über Machtlosigkeit.
Wenn das, was so lange nicht gesagt wurde. Wenn das, was unsagbar schien. Wenn das gesagt wird.
Worte, die mir nicht über die Lippen kommen wollen. Weil sich alles in mir sträubt.
Gegen unsere Geschwister. Gegen unsere Freunde und Freundinnen. Gegen die, die an ihn glauben.
Den Unsagbaren.
Unsagbares scheint wieder sagbar. Und gesagtes-Unsagbares hat Folgen.
Wieder.

Ich will über Unordnung reden.

Über Halle.
Ein Mann. Schüsse.
Zwei Tote. Glück gehabt. Glück im Unglück. Glück im Chaos.
Chaos in Halle. Wer war das? Warum? Was hat er gesagt?
Er redet von Chaos. Von Unordnung. Er vermisst seine Ordnung.
Für ihn steht die Welt Kopf und er stellt unsere Welt Kopf. Wo ist oben? Wo ist unten?
Er redet vom Durcheinander und von der falschen Ordnung. Die sich durchgesetzt habe.
Er muss jetzt seine Ordnung durchsetzen. Er kann das Chaos nicht länger ertragen.
Ich kann das nicht länger ertragen. Das Gerede von angeblichen Ordnungen.
Die doch angeblich schon immer so waren. Die richtig sind. Alles andere ist falsch.
In seiner Ordnung bin auch ich falsch.
In meiner Ordnung ist er falsch.
Nichts ist geordnet.  

Ich will über Unordnung reden.

Über Thüringen.
Die Menschen haben gewählt. Weil sie es können. Weil sie es dürfen. Sie haben ein Recht darauf.
Erkämpftes Recht. Verdientes Recht.
Sie nutzen es. Viele nutzen es. Mehr als sonst. Die Wahl ist geordnet.
Das Ergebnis ist es nicht. Das Ergebnis schafft Unordnung. Das Zimmer versinkt im Chaos.
Nichts passt zusammen.
Mir wird abgesprochen die politische Mitte zu sein.
Wer ist denn die Mitte? Welche Ordnung sagt, was die Mitte ist? Wer sagt denn das?
Ordnung wollen 23% schaffen. 23% wollen eine neue Ordnung. Sie finden es ungeordnet wie es jetzt ist.
Früher war alles ordentlicher. Da wurde noch ordentlich geputzt. Aufgeräumt. Gesäubert.
Sie wählen für Ordnung und es entsteht immer mehr Unordnung. Durcheinander. Chaos.
Tohuwabohu.

Ich will über Unordnung reden.

Über Wüste und Leere.
Wüst und leer war alles. Ein Zimmer ohne Inhalt. Keine Bauklötze und keine Kuscheltiere.
Keine Kekskrümel.
Und dann kam alles. Nacheinander. Geordnet. Per Zufall.
Das Zimmer hat sich gefüllt. Erst hier und dann da. Es wurde immer voller.
Und es war gut.
Es war in Ordnung.

Bis eine neue Ordnung gefordert wurde. Von der anderen Seite.
Sie wollten ihre eigene Ordnung.
Und sie haben sie bekommen. Von nun durften sie die Ordnungen bestimmen.
Sagen was in Ordnung ist. Wer sagt denn das? Wir sagen das!
Doch die einen sagten das und die anderen das. Und aus Ordnung wurde Unordnung.
Ganz schnell.
Wir können nichts dafür. Wir sind so. Schulter zucken. Achsel zucken.
Weiter so. Weiter ins Chaos.
Das Zimmer wurde chaotisch. Und chaotischer.

Und dann stand die Mutter in der Tür mit dem gelben Sack.
Zwischen den Kuscheltieren. Und den Kekskrümeln.
In diesem Chaos kann doch kein Mensch leben!
Das Kind hat geweint und geschrien.
Ich sehe gar kein Chaos! Das ist meine Ordnung! Ich kann hier gut leben!

Du ja, aber die anderen nicht.

Und die Mutter hat alles in den Sack geräumt.
Dann war alles weg, was das Kind mochte.
Dann war alles weg.

Das Kind saß auf dem Fußboden im leeren Zimmer.
Die Tränen flossen.

Ich will über Unordnung reden.

Meine Tränen fließen. Wenn wieder Menschen als Juden beschimpft werden.
Meine Tränen fließen. Wenn wieder Menschen getötet werden weil sie angeblich nicht in Ordnung sind.
Meine Tränen fließen. Wenn wieder „Nie wieder“ gesagt werden muss.

Nie wieder. Und ess ist schon wieder nie.
Denn „nie wieder“ war nur eine Phrase. Scheinbar.

Ich will über Unordnung reden.

Das Kind hat geweint und geweint. Es saß allein im Zimmer.
Und dann kam die Mutter zurück.
Mit dem Lieblingsteddy.
Sie hat das Kind in den Arm genommen.
Und gesagt:
Nie wieder räume ich alle deine Sachen weg!
Ich weiß, du versuchst es immer wieder aufzuräumen.
Und dann kommt das Chaos.
Du kannst nicht anders. Aber vielleicht versuchst du es wenigstens ab jetzt?
Das Kind nickt und nimmt seinen Teddy.
Nie wieder will es ihn loslassen. Nie wieder will es so unordentlich sein.
Nie wieder soll Mama über die Duplo Steine stolpern müssen.
Das Kind schaut zu ihr auf.

Sie streichelt dem Kind über den Kopf.
Gibt ihm einen Kuss und wischt die Tränen ab.
Ich liebe dich.

Ich will über Unordnung reden.

Ich liebe dich.
Das steht in den Wolken.
Ich liebe dich und nie wieder.
Zwei Sätze. Zwei Versprechen.
Sie werden nicht gebrochen.
Sie sind keine Phrasen.

Nicht auf der Seite.

Aber zu oft auf der anderen.
Auf unserer.

Wenn schon wieder „Nie wieder“ ist. Dann müssen wir uns an das Versprechen in den Wolken erinnern.
Wenn schon wieder die Tränen fließen. Dann müssen wir etwas tun.

Aufstehen und „Nie wieder“ schreien!
Aus der Deckung kommen. Aus der Komfortzone. Aus unserem gut eingerichteten Kinderzimmer.
Wir müssen es jetzt.
Bevor es zu spät ist.
Bevor schon wieder „Nie wieder ist.“

Wir müssen etwas tun.

Gegen die Phrasen. Gegen die Unordnung. Gegen das „schon wieder“. Gegen das Chaos.

Denn:

Ich will nicht über Unordnung reden.

Ich will in den Himmel schauen und „Nie wieder“ sehen.
Ich will getrocknete Tränen.
Und ein ewiges „Ich liebe dich.“

Amen.



Gehalten am 3. November 2019

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