Wo kämem wir hin?


Sie werden so schnell groß!
Gerade erst geboren, gerade noch haben die Engel gejubelt, die Könige sind eigentlich noch nicht mal an der Krippe angekommen und Maria ist noch im Wochenbett.
Der kleine Jesus, der kleine Säugling, er wird so schnell groß.
Gerade noch war Heiligabend und wir haben ihn in der Krippe liegen sehen. In Windeln gewickelt und beäugt von allen, die ihn besuchen wollten.
Und heute.
Sitzt er im Tempel in Jerusalem. Kann Laufen und Sprechen. Er ist 12 Jahre alt.
So berichtet es der Autor, des Lukasevangeliums.
Sie werden so schnell groß!
Er wird so schnell groß!
Jesus, Joshua. Noch nicht Christus. Noch nur Jesus.
Nach Jerusalem reist er mit seinen Eltern und sie besuchen den Tempel. Wie es üblich ist.
Ein unfassbar beeindruckendes Gebäude muss dieser Tempel gewesen sein. Alle Herrlichkeit und Unfassbarkeit Gottes versuch in Stein zu hauen. In Säulen und Treppenstufen. Ein Ort für die Heiligkeit. Die nicht-aussprechbare Heiligkeit des einen Gottes. Des einen Gottes, an den die Familie Jesu glaubte. Sie kamen um ihrem Gott zu dienen.
Und Jesus bleibt um seinem Gott zu dienen.
Seinem Vater, wie er sagt.

Und ja, die Frage wie es den Eltern geht, als sie feststellen, dass ihr Sohn nicht bei ihnen ist. Die Frage was Maria als Mutter empfindet, wenn Jesus sagt, dass sein Vater im Tempel wohnt. Und noch viel mehr die Frage wie es Josef wohl dabei geht. Mit all diesen Fragen würde ich mich gerne beschäftigen. Ein andern Mal.

Denn heute zu Beginn des neuen Jahres. Zu Beginn eines neuen Jahrzehnts. Zu Beginn von etwas Neuem. Da ist mir etwas anderes aufgefallen.

Jesus sitzt im Tempel. Er sitzt bei den Gelehrten und fragt sie Löcher in den Bauch. Alle sind von ihm beeindruckt. Von diesem kleinen Jungen, der so viel zu fragen und zu wissen scheint.
Und er selbst sagt, dass er zu diesen Menschen im Tempel gehört.
Denn sie dienen dem einen Gott.
Jesus sitzt im Tempel in Jerusalem und fühlt sich zuhause.
Jetzt mit 12 Jahren.

Und genau in diesem Tempel wird er in ein paar Jahren wütend sein. Wütend ist noch zu wenig.
Er wird rasen vor Wut. Er wird Tische und Stühle umwerfen. Er wird schreien.
Aus der Haut fahren. Denn der Tempel ist nicht mehr sein zuhause.

Die, die mit ihm dort sitzen. Jetzt. Neben dem zwölfjährigen Jesus. Die Hohepriester, sie werden ihn in ein paar Jahren verraten. Sie werden mit den politischen Mächten zusammenarbeiten, die wollen, dass der störende Neudenker Jesus aus dem Verkehr gezogen wird.

Was ist da passiert? Was hat sich verändert?
Warum wird aus dem Zuhause ein Ort, der Jesus wütend macht?
Warum werden aus seinen Familienmitgliedern im Tempel seine Gegenspieler?
Was ist da passiert? Was hat sich verändert?

Natürlich weiß ich es nicht. Ich weiß ja nicht mal, ob das alles wirklich so geschehen ist. Aber ob nun so oder anders. Da doch eine riesige Lücke!
Tatsächlich klafft da eine Lücke, denn nach dieser Geschichte geht es erst mit einem erwachsenen Jesus weiter. Der, der dann in einem Jahr schon sterben wird.

Darum umso dringender die Frage: Was ist da passiert?
Wie kann aus einem Zuhause ein Nicht-Zuhause werden?
Was hat sich verändert?

Nichts. Wenn Sie mich fragen, ist das eine Antwort. Es hat sich nichts verändert.
Der Tempel ist derselbe. Die Bräuche, die Traditionen, die Gelehrten. Sie sind dieselben.

Nur Jesus, der ist es nicht.

Mit 12 Jahren sitzt er im Tempel. Neugierig, jung, naseweis. Vielleicht mit einer Ahnung. Mit einer Ahnung, dass sein Leben mit diesem Tempel und mit den Fragen, die ihm auf den Nägeln brennen, zu tun haben wird. Das sein Leben bestimmt werden wird von dem, was in ihm brennt.
Mit 12 Jahren sitzt er im Tempel und liest vielleicht im Buch des Propheten Jesaja. Der vor langer Zeit, in Jahren des Neuanfangs und in der Hoffnung auf Besserung folgendes geschrieben hat:

„Die Geistkraft Gottes, der Macht über mich, ist auf mir.
Weil Gott mich gesalbt hat, bin ich gesandt,
den
Armen frohe Botschaft zu verkünden,
die zu verbinden, die ein zerbrochenes
Herz haben,
auszurufen den Gefangenen die Befreiung
und den Gebundenen die Lösung ihrer Fesseln,
auszurufen ein Jahr des Wohlgefallens für Gott und einen Tag der
Vergeltung für unsere Gottheit,
zu trösten alle, die trauern, damit sich freuen die Trauernden Zions,
ihnen Schmuck zu geben anstelle von Staub,
Freudenöl statt Trauerkleid, Lobgesang statt
Trübsinn,
damit sie ›Bäume der Gerechtigkeit‹ genannt werden, ›Prachtpflanzung Gottes ‹.“

Vielleicht liest der junge Jesus diesen Text. Und vielleicht prickelt es bei diesen Worten in seinem Bauch. In seinem Herzen. Vielleicht keimt eine Idee auf. Die Idee einer Aufgabe. Für ihn. Der doch so schnell groß wird.

Vielleicht geht er danach aus dem Tempel mit den Worten Jesajas in seinem Herzen. Und geht mit diesem Text spazieren. Geht nach Hause und wird größer. Sieht seine Welt und sein Land und die Menschen. Und seine Kultur, die Bräuche, die Traditionen, die Religion.

Und merkt. Dass sich etwas verändern muss.
Jesus sieht die Armen, an denen alle vorbeigehen und sie scheinbar nicht sehen.
Sieht die Kranken, die lieber niemand anfasst und die ausgestoßen vor dem Tempel sitzen müssen. Im Tempel ist kein Platz für Kranke und Arme. Sie sind der Heiligkeit nicht würdig. Sie haben dort nichts zu suchen.
Jesus sieht die Menschen mit anderer Herkunft, sie werden anders angeguckt. Auch Jesus guckt sie so an, er hat es nicht anders gelernt.
Jesus sieht die Frauen, die einmal im Monat unrein sind. Die dann erst Recht nicht den Tempel betreten dürfen. Denn unreines hat bei der Heiligkeit nichts zu suchen.
Jesus sieht die Reichen, die vor den Augen der Armen und Kranken im Tempel handeln und ihr Geld mit vollen Händen ausgeben.
Jesus sieht seine Welt. Seine Kultur, Bräuche, Tradition und Religion.
Und er will etwas verändern.
Gar nicht alles auf einmal.
Aber Stillstand will er nicht.
Nicht bei sich zuhause, nicht in seiner Stadt, nicht im Tempel.

In einem Tempel, in dem immer alles so bleibt, wie es schon immer war.
Der nicht aus seinen dicken Mauern schaut. Nach draußen. Der sich abschirmt gegen die Welt und deren Entwicklungen. In einem Tempel, in dem die Heiligkeit Gottes vor Unreinheit, Krankheit Armut und Veränderungen geschützt werden muss.
In so einem Tempel ist kein Zuhause für Jesus.

Und die, die sich im Tempel zuhause fühlen. So wie er schon immer war. So wie es schon immer war. So wie man das eben schon immer so gemacht hat. Die wollen niemanden, der etwas verändern will. Sie wollen Sicherheit und Stabilität. Sie wollen ihre Macht behalten. Sie haben Angst vor der Veränderung. Sie wollen keinen neu- und freidenkenden Jesus.

Jesus lebt im Hier und Jetzt. Er schaut sich um und die Menschen an.
Er will ein Zuhause für alle im Tempel. Er will offene Türen und stetige Veränderung.
Jesus geht dahin. Dahin wo alle sagen: Wo kämen wir denn da hin?

Jesus wird so schnell groß. Gerade noch Weihnachten, jetzt schon 12 Jahre. Und in ein paar Monaten wütend im Tempel. Und dann am Kreuz.

Wo kämen wir hin, wenn alle sagten: Wo kämen wir hin?
Und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen.

Jesus ist dahin gegangen.

Das ist passiert. Das hat sich verändert. Und das verändert alles.

Wir leben im Hier und Jetzt. Im Jahr 2020. 2000 Jahre nach Jesus. Ein neues Jahrzehnt.
Und.
Wir sind im Tempel. Im Haus Gottes. In unserem Zuhause.
Schauen wir uns um? Schauen wir nach draußen? Schauen wir die Menschen an?
Haben wir unsere Türen offen? Sind wir bereit uns zu verändern?

Sind wir bereit dahin zu gehen, wo alle sagen: Wo kämen wir denn da hin?

Amen. 


Predigt über Lukas 2,42-53

und Jesaja 61, 1-3. 10-11

Zitat von Kurt Marti 
Gehalten am 5. Januar 2020

Kommentare

Beliebte Posts