Brennpunkt

Wo brennt’s denn? Alarmiert steht Papa in der Tür. Ganz außer Atem ist er, der Schrei aus der Küche hat so geklungen, als wären gerade alle Küchenschränke herabgestürzt und hätten das Kind unter sich begraben. Aber es sind zum Glück noch alle Tassen im Schrank, das Kind steht aufrecht. Das Einzige, was auf dem Boden liegt ist ein Kuchen. Beziehungsweise das, was davon übrig ist. Der schöne Geburtstagskuchen, liebevoll verziert nach den Wünschen des Geburtstagskindes, ist nur noch ein Haufen süßer Matsch. Daneben das Kind mit rotem Gesicht und dicken Tränen auf der Wange.

Was will das denn werden? fragt Papa und beugt sich zu seinem wütenden Schatz herunter. Ich will keinen Geburtstag feiern! Wütend wird mit dem Fuß aufgestampft und die Arme vor der Brust verschränkt. Das ist doch alles ganz doof! Einen Geburtstag ohne Oma und Opa will ich nicht. Und auch nicht ohne Emma und Noah! Dann will ich lieber gar keinen! Es folgen noch ein wütender Tritt gegen den Kuchenmatsch, sodass die Socke nun mit Zuckerguss und Marzipan verziert ist. Das Kind beginnt zu schluchzen, kein Wort ist mehr zu verstehen.

Papa setzt sich neben den Kuchenmatsch und das traurige Kind. Sein Herz blutet. Jede brennende Kullerträne kann er so gut verstehen. Seit Monaten fiebern sie auf diesen Geburtstag hin. Ballons soll es geben, eine Schnitzeljagd, Lagerfeuer und natürlich Hot Dogs - das allerliebste Lieblingsessen. Und nun soll es eine Feier zu dritt zuhause geben. Zu dritt am Lagerfeuer sitzen macht eben viel weniger Spaß. Papa nimmt das schluchzende Kind in den Arm. Ganz fest.

Ich verstehe dich. Zusammen sitzen sie da, zusammen weinen sie. Bis der Kuchenmatsch ganz salzig ist und bis das Kind aus dem Fenster sieht. Es reibt sich die Augen. Da war doch was! Eine Rauchwolke steigt langsam in die Wolken und auf einmal ist da ein Luftballon. Knallrot steigt er zum Himmel. Papa guck mal! Aufgeregt rennen beide zum Fenster, fast wären sie auf dem Kuchen ausgerutscht. Und da sind sie. Oma, Opa, Emma, Noah und Mama. Sie stehen um ein kleines Lagerfeuer im Garten. Jeder für sich mit Abstand, doch zusammen. Sie lassen knallrote Ballons zum Geburtstagskind steigen. Der Wind bläst sie hoch und höher.

Der Himmel wird rot und das Lächeln immer größer. Heute ist der Tag, heut ist dein Geburtstag, darum feiern wir. Zusammen essen sie Hot Dogs, die einen auf dem Balkon, die anderen verteilt im Garten. Und zum Abschluss gibt es Kuchenmatsch, keiner stellte Fragen was damit passiert ist, alle verstehen.

 

Wo brennt’s denn? Wütend schreit er sein Auto an. Aus seiner Motorhaube raucht es und es bewegt sich keinen Zentimeter mehr. Weder vorwärts noch rückwärts. Das kann doch nicht wahr sein. Das muss natürlich ausgerechnet heute passieren. Auf dem Weg nach Hause, endlich wieder nach Wochen. Auf dem Weg zu den Menschen, die sein Herz höher schlagen lassen. Jetzt schlägt sein Herz viel zu schnell, vor Ärger. Er steigt aus dem Auto und schmeißt die Tür mit Karacho zu. Irgendwo muss er die brennende Wut doch lassen. Der knall verhallt in der dunklen Nacht. Niemand antwortet, nichts ist zu sehen.

Es ist zu spät, um zuhause anzurufen, die schlafen sicher alle längst. Natürlich ist heute der Tag, an dem alle schief geht. Erst der Chef, der nicht versteht, dass er heute ganz pünktlich Feierabend machen will. Dann der ewige Stau, bei dem mal wieder keiner das Reißverschlussprinzip versteht. Und jetzt auch noch das. Wütend haut er auf die Motorhaube und reibt sich müde die Augen.

Da stupst etwas an sein Bein. Er erschrickt, sein schnelles Herz setzt einen Moment aus. Er schaut nach unten und sieht, ein Schaf. Nein, vier Schafe. Sie stehen um ihn herum und schauen ihn an. Erwartungsvoll und verwundert.

Was will das denn werden? Er beugt sich nach unten und schaut in die dunklen Augen. Die Schafe antworten ihm nicht, schauen ihn einfach nur an. In diesem Moment kann er sich einfach nur noch hinsetzen. Mitten auf die Straße vor das Auto. Umringt von vier Schafen. Eins legt den Kopf in seinen Schoß. Er kann nicht anders, er muss lachen. Mitten in der Nacht, mit vier Schafen und einem kaputten Auto. Es ist als würden die Schafe alles verstehen. Sein Herz beruhigt sich und er beginnt das Schaf langsam zu streicheln. Ein leises Määh kommt zurück.

Ich verstehe dich. So sitzen sie da. Lassen den Wind übers Gesicht und Fell wehen. Fast wären sie eingeschlafen. Da trifft ihn etwas am Kopf. Nicht doll, ganz sacht. Im Dunkeln kann er es kaum erkennen. Ein Ballon, getragen vom Wind. Mitten hierher. Mitten in der Nacht am heutigen Tag.

Er lacht, sein Herz hüpft. Er hat verstanden.

Wo brennt’s denn? Sie hält das Telefon eingeklemmt zwischen Schulter und Ohr, das ist zwar unbequem aber so kann sie gleichzeitig mit der einen Hand den Pc bedienen und mit der anderen ihr Brot essen. Am anderen Ende ist nur ein Rauschen zu hören. Niemand antwortet auf ihre Frage. Genervt seufzt sie, es war kurz vor Feierabend und auf Telefonscherze hat sie jetzt wirklich keine Lust. Nochmal fragt sie: Hallo, Sind Sie noch da? Wie kann ich ihnen helfen? Wo brennt es denn?

Am anderen Ende immer noch Stille. Vielleicht ganz leise Musik im Hintergrund, wie von einem Radio. Aber eben keine Antwort. Na gut, dann scheint es ja nicht so dringend zu sein denkt sie, will gerade den kleinen roten Knopf drücken um aufzulegen.

Da hört sie vom anderen Ende eine Stimme. Sehr leise, fast flüsternd. Sie muss ganz genau hinhören, um etwas zu verstehen. Nur um dann festzustellen, dass sie nichts verstehen kann. Die Person am anderen Ende spricht in einer anderen Sprache. Fremde Sätze, Wörter dringen an ihr Ohr. Leider hat sie keine Ahnung was das für eine Sprache ist. Sie ist nicht sonderlich sprachbegabt, ein bisschen Englisch, aber das ist es auch. Doch die Sprache am anderen Ende klingt wunderschön. Ein wenig wie Musik, ganz sanft. Sie lehnt sich im Stuhl zurück, lässt den Pc blinken und ihr Brot liegen. Sie lässt sich treiben von den fremden Klängen und hört mit geschlossenen Augen zu. Wie lange sie so in ihrem Stuhl sitzt, das weiß sie später gar nicht. Nur, dass sie das Gefühl hat der Person am anderen Ende direkt gegenüberzusitzen. Ihr tief in die Augen zu sehen. Ganz da zu sein. Einfach zuzuhören und nur im Moment bei der Person zu sein, die ihr so viel erzählen will. Einfach da sein und verstehen. Ich verstehe dich.

Bis auf einmal ihr Kollege neben ihr steht. Abrupt reißt er sie aus dem Gespräch:

Was will das denn werden? fragt er sie verwundert. Hast du nicht schon längst Feierabend?

Sie muss sich kurz die Augen reiben. Wo ist sie? Ach ja, an ihrem Schreibtisch. Das Telefon noch immer am Ohr.

Am anderen Ende ist nun wieder nur das Rauschen zu hören. Hallo? Sind sie noch da? Kann ich Ihnen noch irgendwie helfen? Gespannt wartet sie ab. Nach einer kleinen ewigen Weile hört Sie dann noch einmal die Stimme: Danke. Dann legt die Person auf.

Sie lässt den Hörer sinken, blickt aus dem Fenster. Da fliegt ein roter Ballon vorbei, sie schaut ihm nach und sagt zu ihrem Kollegen: Was das werden will? Ich habe keine Ahnung. Doch ich glaube ich habe verstanden.

Wo brennt’s denn schon wieder? Der Sprecher im Fernsehen hat es schon wieder gesagt: Im Anschluss an die Tagesschau senden wir heute einen Brennpunkt. Die nachfolgende Sendung verschiebt sich um ca. 20 Minuten.

Schon wieder ein Brennpunkt. Eigentlich ist das ja schon normal. Jeden Tag brennt irgendwo etwas wichtiges. So wichtig, dass alles andere verschoben werden muss. Sie haben sich dran gewöhnt. Dass immer etwas brennt, auch wenn es sie kaum noch berührt. Sie schauen den Brennpunkt, Abend für Abend. Und so langsam verlieren sie die Hoffnung. Auf gute Nachrichten. Auf den Tatort direkt nach der Tagesschau. Eigentlich können wir ausmachen, oder? Müssen wir uns das wirklich ansehen? Doch dann bleiben sie wie immer hängen, aus Gewohnheit. Im Fernsehen die Bilder von Masken, von Krankenhäusern, von Mächtigen, die um Geld bitten. Von Kindern, die miteinander spielen wollen, von Gottesdiensten ohne Singen. Ich kann das einfach nicht mehr sehen!

Was will das denn noch werden?

Die Sprecherin im Fernsehen sieht aus wie immer. Doch irgendwas ist anders. Ihr rotes Kleid leuchtet und sogar roten Lippenstift trägt sie. Und lächelt die eigentlich immer so?

Und heute zum Abschluss unserer Sendung einmal ein paar ganz andere Bilder, als sonst. Denn der heutige Tag war anders als sonst. In unserer Redaktion haben uns Anrufe und Mails erreicht und alle zeigten dasselbe. Rote Ballons! Wie bei Nena und den 99 Luftballons scheinen heute an den unterschiedlichsten Orten rote Ballons am Himmel gewesen zu sein. Zeichen am Himmel könnte man sagen, Zeichen der Verbundenheit. Mit ihnen kam auch immer ein Stück Hoffnung herbeigeweht. Keiner versteht wie sie so weit fliegen konnten. Und keiner weiß, wo sie herkamen.

Doch alle, die einen bekommen haben berichten uns, dass sie verstehen. Fragen Sie mich nicht liebe Zuschauer, ich habe keine Erklärung und weiß auch nicht so richtig, ob ich das alles glauben soll. Doch schauen Sie sich diese Bilder an.

Schauen sie diese fliegenden Zeichen der Hoffnung an.

Braucht das eine Erklärung?

Sie sitzen vor dem Fernseher, sehen die Bilder der fliegenden Ballons. Und verstehen.

Und war das da am Fenster nicht eben ein Ballon?



Gehalten am 31. Mai 2020

Inspiriert von Apostelgeschichte 2,1-21

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