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Der Name des Schiffs

Ruhig liegt es auf dem Wasser. Hin und her schaukeln die Wellen das Schiff, sanftes Plätschern am Bug. Hin und wieder setzt sich eine Möwe auf das Deck und schaut sich um. Doch es ist niemand zu sehen. Niemand ist auf dem großen Schiff zu sehen. Ja, es ist ein großes Schiff, kein Riesenkreuzer, aber doch ein großer Kahn. Kahn trifft es, denn das Schiff ist nicht mehr besonders gut in Schuss. Vor langen Jahren muss es einmal wunderschön und strahlend übers Meer gefahren sein. Jetzt erinnern nur noch einige strahlende Farbspritzer an die gute alte Zeit. Die Polster der Liegestühle sind ausgeblichen und haben Risse. An der Bar gibt es Apfelschorle und Filterkaffee. Cocktails oder einen Caramel Macchiato bekommt leider kein Gast. Die Möwe tapst ein wenig über das Deck, sucht nach Essensresten, doch sie findet nur ein paar Kekskrümel. Irgendwie lohnt sich das hier nicht so richtig für sie. Dabei sah das große Schiff so vielversprechend aus! Aber wenn es hier nichts zu essen, keine anderen Möwen und sonst auch nichts gibt, kann sie auch weiterfliegen. Sie breitet ihre Flügel aus, hebt ab und fliegt weiter.

Das große Schiff bleibt liegen, ruhig und entspannt liegt es da.

Als würde es ihm nichts ausmachen so einsam und langsam in die Jahre kommend dazuliegen.

Die dunklen Wolken am Horizont scheinen weit weg.

Das Schiff macht weiter wie bisher.

Das Schiff, das ganz vorne am Bug seinen Namen nennt. Mit abblätternder Farbe.

Das Schiff namens Kirche.

 

Erlebnis 1

Vor ein paar Tagen hatte ich einen Termin, auf den habe ich mich so richtig gefreut. Ich hatte sozusagen ein Lebensziel in meinem Beruf erreicht - und das jetzt schon mit nicht mal 30! Ich durfte zu einem Menschen gehen, der sich entschieden hatte, wieder in die Kirche einzutreten. Da hüpft doch mein Pastorinnenherz! Und mein Hannahherz sowieso auch. Ich habe mich also auf den Weg zu diesem Menschen gemacht, wir haben uns nett unterhalten. Es ging um Kirche und Geld und schlechte Erfahrungen. Doch dann eben auch um die Gemeinschaft, die ihm Kirche anbietet. Und eigentlich hätte ich in diesem Moment einen großen Blumenstrauß gebraucht, eine Broschüre mit all den tollen Angeboten, die Kirche so macht und vielleicht noch eine Urkunde. Und was hatte ich dabei?

Drei Seiten Formulare. Nach dem Motto: Schön, dass Sie wieder zu uns kommen wollen, aber nun erstmal ganz viel Bürokratie. Kann ich bitte mal Ihre Kirchenaustrittsbescheinigung sehen? Ja wirklich, die soll eigentlich vorgezeigt werden.

Mir war das alles sehr peinlich. Klar, ich verstehe, dass alles seine Ordnung haben muss. Und doch war dies wieder einer der Momente in dem ich mich für meine Kirche geschämt habe. Für alles, was auf diesem großen Schiff schon so lange nicht gut läuft. Dafür, dass es keine Karte gibt, die selbstverständlich einem Menschen übergeben wird, der in die Kirche eintritt. Dafür, dass ein Mensch die Erfahrung machen musste, dass in der Kirche das Geld an erster Stelle steht. Für all die Berichte, die ich schon gehört habe, wie unglaublich unsensibel Menschen in der Kirche manchmal mit Gefühlen umgehen.

Dafür, dass an so einer entscheidenden Stelle genau das fehlt, was so oft fehlt.

Wertschätzung. Fingerspitzengefühl.

Und vor allem: Die Erkenntnis, dass es nicht selbstverständlich ist!

Kirche ist nicht selbstverständlich.

Sie ist es schon lange nicht mehr.

 

Warten im Bauch

Der große Kahn namens Kirche liegt auf dem Meer. Die Sonne scheint, doch die dunklen Wolken kommen näher. Auf dem Schiff ist niemand zu sehen, nichts ist zu hören. Doch, wenn man ganz genau hinhört, dann dringen ein paar Stimmen ans Deck. Irgendwo unten im Bauch des Schiffes gibt es scheinbar doch Schiffsbewohner. Warum sind sie da unten? Da sieht sie doch keiner? Und was machen sie da?

Sie sitzen und warten. Sie haben Tische gedeckt, es gibt Kaffee und Kuchen. Und viele leere Stühle. Warum kommt denn keiner? Bei uns ist es so schön! Wir freuen uns so auf die Menschen, wir wollen doch eine Gemeinschaft sein! Wir haben auch ein Schild oben aufgehängt, warum kommt denn niemand?

Und so trinken sie zusammen Kaffee. Unter sich. Das ist sehr schön, doch die leeren Stühle bleiben.

Es ist gemütlich im Bauch des Schiffes.

Und so warten sie weiter.

Irgendwann wird schon jemand kommen.

Bestimmt.

Es ist doch so schön hier!

 

Erlebnis 2

"Wir dürfen nicht warten, bis die Menschen in unsere Kirchen oder Gemeindehäuser kommen. Wir müssen raus, dahin, wo sich der Alltag der Menschen abspielt." 1

Das sagt Heinrich Bedford-Strohm. Aktuell der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er sagte es letzte Woche, als die neuen Kirchenaustrittszahlen veröffentlicht wurden. 270.000 Menschen sind im letzten Jahr aus der Kirche ausgetreten. So viele wie noch nie! Wir werden immer weniger. Und das nicht erst seit kurzem. Die Kurve geht seit Jahren nach unten. Und scheinbar ist sie nicht aufzuhalten. Es ist deprimierend. Es ist traurig. Und natürlich hat Herr Bedford-Strohm Recht mit seiner Aussage. Dass wir aufhören müssen auf die Menschen zu warten, sondern rausgehen müssen. Aber ganz ehrlich, das ist auch seit Jahren bekannt! Ich zumindest habe schon vor Jahren im Studium von der „Geh-Struktur“ gehört, statt der „Komm-Struktur“. Also der Theorie, dass die Kirche auf die Menschen zugehen muss mit Angeboten und nicht warten, bis sie zu ihnen kommt. In den 70ern hat ein Mann namens Ernst Lange schon Ladenkirchen gegründet, damit die Kirchen in der Stadt präsent sind.

Die Idee ist gut, sie ist nicht neu und irgendwie hat sie sich nicht durchgesetzt.

Klar gibt es Versuche. Manche funktionieren und manche scheitern. Hier in Bremen gibt es zum Beispiel das Lighthouse an der Schlachte - waren sie da schon mal? In der Überseestadt entsteht ein tolles Projekt mit der Überseestadtkirche. In Gröpelingen gibt es eine Ladenkirche, die Epiphanias Gemeinde in Sebaldsbrück hat ein Kaffee für den Stadtteil aufgebaut. Und das läuft auch richtig gut!

Und leider sind das immer noch Beispiele einzelner Gemeinden.

Wenn wir das mit der Geh-Struktur ernst meinen, müsste dann nicht jede Gemeinde so etwas machen?

Müsste es dann nicht einen Plan geben, einen Leitfaden? Müsste es dann nicht Zusammenarbeit mit Stadtteilbeiräten, mit der Diakonie, mit Vereinen und Musikschulen geben? Müsste nicht genau analysiert werden, was, wo gebraucht wird? Müsste nicht viel mehr ausprobiert werden?

Es müsste. Und ich glaube so viele wollen.

So viele haben verstanden, dass Kirche nicht mehr selbstverständlich ist.

Dass der Sonntagsgottesdienst nicht der Alltag ist.

Was also tun?

Diskussionen am Leck

Ganz unten im Schiff namens Kirche gibt es eine kleine Versammlung. Im Maschinenraum stehen sie mit gebeugten Köpfen im Kreis. Sie stehen um etwas herum. Ratlos kratzen sie sich an der Stirn und schauen in die Runde. Ihre Fußspitzen werden schon nass. Denn sie stehen im Kreis um ein Leck. Das Schiff hat ein Loch. Und ganz langsam dringt Wasser hinein. Wenn das so weitergeht, dann ist bald Wasser im Maschinenraum und das ist bekannter weise nicht gut. Was also tun?

Reparieren natürlich sagt einer. Ja, aber lohnt sich das noch? Fragt eine andere. Was wenn morgen noch mehr kaputt geht? Das können wir uns nicht leisten! Überlegt doch mal was so eine Reparatur kostet! Lasst uns lieber versuchen das selber notdürftig zu stopfen. Das wird schon halten! Wir haben einfach nicht das Geld, so ohne Passagiere. Seitdem keiner mehr mit uns mitfahren will, seitdem wird eben alles knapp.

Das muss ich euch doch nicht erzählen!

Ohne Geld hilft uns auch die schönste Gemeinschaft im Schiffsbauch nicht.

Ohne Geld werden wir langsam aber sicher untergehen. 

Und so stehen sie stumm um das Leck.

Mit gesenkten Köpfen und nassen Füßen.

 

Erlebnis 3

„Ich starre nicht wie das Kaninchen vor der Schlange auf die Mitgliederzahlen, sondern lebe aus christlicher Überzeugung nach dem Prinzip Hoffnung. Jede Taufe ist ein Geschenk, und alle, die gerne in der Kirche leben und mitarbeiten, sind eine Bereicherung.“2

Das sagt Bernd Kuschnerus. Schriftführer unserer Bremischen Landeskirche. Auch er hat das letzte Woche in Reaktion auf die Austrittszahlen gesagt. Ich finde das eine sehr positive Aussage und auch mutig. Diese Sicht bewundere ich. Positiv und optimistisch zu bleiben und zu akzeptieren, dass die Kirche eben immer kleiner wird.

Denn ich schaffe es nicht so positiv zu bleiben. Ich bin ganz schön oft das Kaninchen vor der Schlange. Wenn ich mir vorstelle wie es in 30 Jahren sein wird, denn dann werde ich wohl hoffentlich noch als Pastorin arbeiten.

Ich weiß wie knapp die Finanzen werden. Ich sehe wie Gemeinden um jedes Mitglied ringen, denn Mitgliederzahlen sagen aus wie viel Geld die Gemeinde bekommt. Wie viele Mitarbeitenden sie beschäftigen kann. Ich muss euch nicht erzählen, dass Gemeinden kooperieren, dass Gebäude oft nicht erhalten werden können. Wie teuer es ist eine Kirche im Winter zu heizen, in die dann nur ein paar wenige kommen. Ich weiß, dass wegen der Corona-Krise die Haushalte der Landeskirchen knapp werden und Einstellungsstopps anstehen und Projekte nicht verlängert werden. Gerade Projekte, Neuerungen!

Ja, ich freue mich auch über jede Taufe und über uns alle! Wir sind eine Bereicherung! Aber wir brauchen auch Geld. So schnöde diese Tatsache ist. So kapitalistisch.

Die Mitgliederzahlen sind entscheidend, so wie unsere Kirche jetzt funktioniert. Die Kirchensteuer ist entscheidend. Und die zahlt eben nur, wer in der Kirche ein Angebot findet, das anspricht. Das den Alltag berührt.

In den Kommentaren auf Facebook zum Statement von Herrn Kuschnerus steht genau das: Taufe schön und gut, aber wenn mir die Kirche danach nichts anbietet, bringt es mir auch nichts.

Das sagt einer um die 30. Für ihn ist Kirche nicht selbstverständlich und er fühlt sich nicht angesprochen. Welche Angebote gibt es schon für ihn? Er schläft Sonntags gerne lange. Und soll er zum Seniorenfrühstück? Zum Bibelkreis?

Warum soll er Geld an die Kirche zahlen, wenn sie ihm nichts bietet?

Warum?

Alle man raus an Deck

Die Möwe ist nochmal zurückgekommen. Die Kekskrümel waren doch gut und sonst ist auch kein Schiff in Sicht. Kein Wunder bei dem Sturm, der da am Horizont aufzieht. Sie landet an Deck und setzte sich auf eine Liege. Und auf einmal hört sie Schritte. Da kommen doch tatsächlich Menschen! Langsam klettern sie an Deck. Es sind nur ein paar, sie müssen kurz blinzeln weil es hier oben so hell ist. Sie machen sich auf den Weg zur Rehling. Halten die Nase in den Wind. Wie gut tut diese frische Luft. Frischer Wind ist genau das, was sie jetzt brauchen. Einer holt Gläser und eine alte Flasche Sekt. Der Korken knallt und sie stoßen an. Dann beginnen sie das Deck aufzuräumen. So gut es geht die Liegen zu reparieren. Es wird geputzt und gemalt. Mit allem was eben da ist. Mit allem, was sie können. Und das ist viel mehr als sie dachten. Gemeinsam holen sie das alte Fischernetz und hängen es als Deko an die Bar.

Sie stoßen nochmal an.

Worauf?

Erlebnis 4

„Ich war noch nie in einer so herzlichen Gemeinde!“ Das habe ich gesagt. Als mich neulich jemand gefragt hat, wie es mir in meinen aktuellen Gemeinden geht. Und das meine ich vollkommen ernst. Klar, auch wir hier sitzen in dem großen alten Kahn namens Kirche. Uns treffen die schwindenden Kirchenmitgliederzahlen. Finanziell leben wir nicht im Schlaraffenland. Die nächsten Jahre werden anstrengend und es wird sich wahnsinnig viel verändern. Was selbstverständlich war wird es nicht mehr sein. Und trotzdem. Trotzdem wir das wissen, habe ich das Gefühl, dass wir an Deck stehen. Und uns den frischen Wind um die Nase wehen lassen.

14 Menschen sind bereit diese Gemeinde mitzuleiten. Das Steuer mit in die Hand zu nehmen. Das Deck zu schrubben und zu überlegen wie wir Kirche leben können. Mit neuen Ideen und alten Herzensanliegen. Ich hoffe ihr habt ganz viel Mut zum Scheitern! Denn es wird nicht alles klappen. Ich glaube auch nicht, dass wir das Ruder noch einmal so richtig rumreißen können. Wir fahren geradewegs in den Sturm, mit unserem alten Kahn. Und wichtig ist, dass wir das wissen. Dass wir die Veränderungen annehmen, uns verabschieden von alten Liegen und den vielen leeren Stühlen. Das Schiff umbauen und den Gegebenheiten anpassen. Natürlich immer auch weiter versuchen auf die Menschen zuzugehen. Uns neue Projekte ausdenken. Von Yoga am Wasser, über Krabbelgottesdienste in der Kirche, über Theater im Saal bis zu Kirchensilvester und was uns alles so einfällt!

Ich bin so gespannt, was uns da alles einfällt! Und ich bin mir sicher uns fällt was ein!

Es wird Abschiede geben, Veränderungen, Trauer und Scheitern.

„Es bleibt abzuwarten, was aus einer kleineren, ärmeren Kirche alles so entstehen kann, wir werden es, so Gott will, erleben.“ 3
Das sagt Pastorin Hanna Jacobs in ihrer Kolumne bei der Zeit. Sie ist ungefähr so alt wie ich. Und ich denke sie hat Recht.

Wir müssen abwarten.

Aber bitte nicht tatenlos! Nicht dem Leck beim größer werden zusehen, nicht blind in den Sturm fahren. Sondern mit allem was wir können das Leck reparieren, und gemeinsam gestärkt in den Sturm fahren.

Hand in Hand.

 

Das Netz

Hand in Hand hängen sie das Netz auf. Und dabei erzählt jemand eine Geschichte. Von Fischern, die schon die Hoffnung aufgegeben hatten. Sie sind mutlos, sie waren heute schon unterwegs und haben nichts gefangen. Das bringt doch nichts. Sie haben es so oft probiert. Und dann kommt einer und sagt: Los probiert es noch einmal! Warum denn, es bringt doch nichts? Glaub uns doch, wir haben alles probiert, was wir können. Aber gut, wenn dieser Mann es vorschlägt. Irgendetwas an ihm ist wahnsinnig überzeugend. Und so bestärkend. Wenn er sagt macht weiter, wird es schon stimmen. Was haben wir schon zu verlieren?

Sie werfen die Netze aus. Und warten. Und dann gehen sie fast unter vor Fischen. Auf einmal sind die Netze voll und die Fischer können ihr Glück nicht fassen. Im Gegenteil sie bekommen einen Riesenschreck. Das Boot droht zu kentern. Überforderung vor Erfolg. Das, woran sie absolut nicht mehr geglaubt haben ist passiert. Weil sie nicht aufgehört haben, weitergemacht. Und weil sie daran geglaubt haben, weil da einer war, der ihnen Mut gemacht hat.

Die Geschichte bringt sie zum Lachen. Das Netz hängt jetzt wie ein Zeichen an der Bar. Für Mut zum Scheitern. Für die Möglichkeit kleiner Wunder.

Für den, der die Kraft gibt weiterzumachen.

Und so stehen sie Hand in Hand an Deck.

Und gemeinsam sprechen sie im Chor:

 

Die Kirche geht unter, noch sind nicht alle weg.

Wir versammeln uns alle beim Leck am Heck.

Wir werden nicht ertrinken! Wir werden nicht untergehen!

Wenn wir gemeinsam begeistert zum Horizont sehen!

 

Amen.



Quellen der Zitate:

1https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/kirchenaustritte-hoechststand-besorgnis-heinrich-bedford-strohm-ekd-thomas-sternberg-zdk

2 https://www.kirche-bremen.de/start/aktuelle_meldungen_33864.php

3 https://www.zeit.de/2020/28/kirche-gesellschaft-relevanz-verlust-gemeindemitglieder



Gehalten am 12. Juli 2020 über Lukas 5,1-11


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