Urlaubsbilder

Jesus hätte eine Maske getragen. Vielleicht eine ganz schlichte weiße. Ohne viel Muster oder Bilder, ohne Glitzer. Er hätte sie kurz vor Betreten des Zuges aufgesetzt, ganz sorgfältig. Darauf geachtet, dass Mund und Nase auch wirklich bedeckt sind. Vielleicht hätte vorher noch einmal tief Luft geholt. Und dann wäre er in den Laden gegangen und hätte sich einen Cappuccino bestellt. Einen einfachen, ohne Zucker. Bedankt hätte er sich „Grazie Signora“. Bezahlt und sich dann nach draußen gesetzt.

Mitten in Italien.

Mitten in die Sonne.

Mitten im Urlaub.

 Zu mir an den Tisch.

 Urlaubsbild Nummer Eins: Cappuccino in Florenz mit Jesus.

Denn genau dort war ich. In den letzten Woche war ich im Urlaub in der Toskana. Ich habe ganze zwei Woche mit meiner Familie in der Sonne genießen dürfen. Wir hatten nichts zu tun. Es gab keine Termine, wir hatten keine Pläne. Nie mussten wir zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sein. Wir haben uns einfach treiben lassen. Im Pool und in den Gassen von Florenz.

 Natürlich mit Abstand und mit Maske.

Noch vor zwei Monaten habe ich nicht gedacht, dass dieser Urlaub möglich sein könnte. Umso dankbarer war und bin ich, dass die Lage der Pandemie es zugelassen hat.

Und doch war der Virus immer mit dabei. Ich bin anders durch die Gassen gegangen. Ich habe die Welt, die Menschen, das Land noch einmal ganz anders gesehen. Die Bilder und Nachrichten aus Italien waren immer mit dabei. Die Frage, ob die Frau im Cafe wohl jemanden verloren hat. Der Blick auf immer noch geschlossene Hotels und die Frage, ob die Besitzer je wieder das Geld haben werden die Türen zu öffnen.

Der Blick auf die Plakate: Florenz neue Renaissance. Nach Corona.

Und mit diesen Eindrücken bin ich eines Tages in der Mittagshitze an einer Kirche vorbeigekommen.

Groß war sie. Beeindruckend. Dicke weiße Engel schauten auf mich herab. Die Türen der Kirche waren zu. Ich bin nicht hineingegangen. Doch auf einmal kam mir der Gedanke:

Wie wäre es wenn Jesus hier mit mir im Urlaub wäre.

Was würde er sehen? Wie würde er im August 2020 handeln?

Was wäre, wenn er und ich zusammen durch diesen Urlaub gehen würden?

Welche Bilder hätte ich am Ende auf meiner Kamera?

Da gäbe es eben das Bild eins aus dem Cafe: Jesus und ich trinken Cappuccino.

Zwei Stühle, ein Tisch, zwei Tassen Cappuccino.

Ein eigentlich belebter Platz, doch momentan sind es weniger Menschen als sonst. Es gibt Touristen, sie stehen in kleinen Gruppen vor der großen Kirche und schauen staunend nach oben. Ein bisschen sehen sie alle aus wie Schildkröten mit langen, gereckten Hälsen.

Gerne würden sie auch in die Kirche gehen - aber der Platz ist begrenzt. Nur wer sich vorher ein Ticket für eine bestimmte Uhrzeit bucht, darf überhaupt hinein.

Ich sehe Jesus an. Auch er beobachtet die Menschen, die nach oben schauen. Er nippt an seinem Cappuccino. Ein kleiner Milchschaumbart bleibt auf seiner Oberlippe zurück.

Eigentlich müsste ich ihn darauf hinweisen, doch es sieht auch einfach ein bisschen himmlisch aus.

Würdest du gerne reingehen? Frage ich Jesus. Da in die Kirche? Würdest du sie gerne sehen?

Jesus nippt noch einmal an seinem Cappuccino, der Milchbart wird größer.

Dann stellt er die Tasse ab und seufzt.

Ich möchte, dass die Menschen reingehen. Ich möchte, dass die Türen weit aufstehen und niemand sich vorher anmelden muss oder ein Ticket kaufen. Dann würde ich natürlich auch dazukommen.

Aber so, jetzt gerade, muss ich da nicht rein.

Ich nicke. Dasselbe denke ich auch oft. Sich anmelden müssen, um in einer Kirche zu kommen. Womöglich noch nicht in einen Gottesdienst gehen zu dürfen, weil ich vergessen habe, mich rechtzeitig anzumelden. Das klingt einfach falsch.

Ich und viele andere in der Kirche sagen doch so oft: Wir sind ein offenes Haus!

Tja, momentan wohl eher nicht.

Momentan müssen Kirchen von außen, oder vom Bildschirm auf dem Computer wohl manchmal reichen.

Aber findest du das denn richtig? Oder würdest du am Liebsten die Türen aufmachen?

Jesus schaut mich an. Und ich erwarte einen schlauen Satz. So einen, der einen umhaut weil er einfach so wahr ist.

Doch Jesus zuckt nur mit den Schultern.

Es ist eine Sache, was ich gerne will Hannah. Und eine Sache, was gerade nötig ist. Wenn ich diesen Virus aus der Welt schaffen könnte, hätte ich es schon lange getan. Kann ich aber nicht. Was ich kann ist hier mit dir sitzen. Und dir sagen, dass Kirche nicht nur da drinnen ist. Nicht nur in den beeindruckenden, Jahrhunderte alten heiligen Mauern. Vielleicht musst du jetzt gerade deinen Blick woandershin wenden. Woanders suchen.

Also doch so ein schlauer Satz.

Und wo soll ich suchen? frage ich ihn.

Jesus nimmt seinen letzten Schluck Cappuccino. Stellt die Tasse ab und nimmt die Kamera.

Er macht ein Bild von uns beiden und den leeren Tassen.

Das ist doch vielleicht ein Anfang sagt er.

Komm jetzt, ich will ein Eis!

Urlaubsbild Eins: Such und du wirst finden.  

Nach Eis und einer Pizza am Abend sitzen wir im Auto. Jesus will lieber hinten sitzen. Er mag es neben meinem kleinen Sohn zu sitzen und mit ihm Kuckuck zu spielen. Manchmal singt er auch für ihn. An einer Ampel müssen wir halten. Rot! brüllt mein Sohn von hinten. Und plötzlich klopft es am Fenster.

Da steht ein Mann. Er hat eine gebückte Haltung und eine Haut, die aussieht als würde er sehr viel Zeit ungeschützt in der Sonne verbringen. Er klopft noch einmal und hält mir seine ausgestreckte Hand hin.

Seine Augen sehen direkt in meine. Und automatisch senke ich den Blick. Mein Herz beginnt zu klopfen.

Ich kenne diese Menschen hier. Sie nutzen den Moment, in dem ich nicht weg kann. Ich kann nicht wie sonst in der Stadt einfach an ihnen vorbeigehen. So tun als hätte ich sie nicht gesehen, oder ihre Frage nach ein wenig Geld überhört.

Der Mann ist jetzt da, es ist jetzt rot und ich muss mich jetzt entscheiden, ob ich das Fenster öffne und ihm Geld gebe, oder ihn einfach ignoriere.

Und ich bin ganz ehrlich. Normalerweise würde ich ihm nichts geben. Wenn ich das jedes Mal mache - wo käme ich da hin? Wenn ich jedem Menschen, der mich darum bittet Geld gebe - dann hätte ich am Ende keines mehr! Und woher weiß ich denn wofür er das Geld benutzt? Ob er es einem kriminellen Bandenchef gibt oder in was er es investiert.

Normalerweise wären das meine Ausreden.

Aber jetzt habe ich Jesus auf dem Rücksitz.

Ich kann seinen Blick in meinem Nacken spüren.

Er muss gar nichts sagen. Ich kenne doch alle die Geschichten von ihm.

Die Aufforderungen denen zu helfen, die es brauchen. Nicht auf dem eigenen Reichtum zu sitzen, sondern zu teilen. Die Geschichten von den Zöllnern, die erkennen, das Geld nicht das Wichtigste ist.

Gebt so wird euch gegeben.

Gib Hannah und dir wird gegeben werden. Jesus Worte klingen in meinen Ohren.

Und so öffne ich das Fenster und reiche dem Mann eine Flasche Wasser.

Mein Geld ist irgendwo im Rucksack vergraben. Das, was ich jetzt gerade geben kann, gebe ich.

Der Mann schaut verdutzt, nimmt die Flasche aber und nickt stumm mit dem Kopf.

Grün! brüllt es von hinten. Und Jesus beginnt wieder zu singen.

Im Rückspiegel treffen sich unsere Blicke.

Und Jesus zeigt mir das Bild, was er eben gerade gemacht hat.

Meine Hand mit der Flasche Wasser am offenen Fenster.

Urlaubsbild Zwei: Gib und dir wird gegeben.

Am nächsten Tag sind wir am Pool unserer Ferienwohnung. Wir lassen den Tag so vergehen. Gehen schwimmen und lesen. Kurz schaut auch unsere Gastgeberin vorbei. Es entsteht eine Unterhaltung. Darüber, dass wir die ersten Gäste sind dieses Jahr. Darüber, dass sie 60 Tage lang ihr Grundstück nicht verlassen haben, als das Virus ganz schlimm gewütet hat. Darüber, dass ihr Onkel verstorben ist an Corona. Und darüber, dass sie nicht zur Beerdigung konnten.

Ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Schon gar nicht auf Englisch. Und ich muss an Beerdigungen denken, die ich in den Wochen vor meinem Urlaub gemacht habe. In kleiner Runde. Mit Briefen von Nachbarn, die traurig waren, dass sie nicht kommen durften.

Ich muss besonders an zwei Menschen denken, die gestorben sind. Direkt nach der Quarantäne. Die in wenigen Wochen abgebaut haben. Einsam, ohne Besuch. Für die, diese Einsamkeit sich nicht gelohnt hat. Ich muss an die Angehörigen denken, die nichts tun konnten. Ihnen waren die Hände gebunden.

Ich will gar nicht wissen, wie viele solche Fälle es gegeben hat und geben wird.

Und natürlich weiß ich auch keine Lösung.

Hilflos schaue ich Jesus an. Am liebsten würde ich unsere Gastgeberin jetzt in den Arm nehmen. So wie ich auch schon die Angehörigen der letzten Wochen in den Arm nehmen wollte.

Aber ich darf nicht. Und ich will auch nicht. Sonst geht das alles ja nie vorbei.

Jesus setzt sich zwischen mich und die Gastgeberin. Und er hebt seine Hände.

Legt sie auf unsere Köpfe. Fast jedenfalls. Ein wenig Luft bleibt. Doch ich kann seine Wärme spüren.

So sitzen wir da. Schweigend. Gesegnet.

Mit dem Herzen bei den Verstorbenen und ihren Lieben.

Urlaubsbild Drei: Ich bin bei euch, alle Tage bis an der Welt Ende.

Irgendwann ist auch der schönste Urlaub zu Ende. Melancholisch packen wir unsere Koffer. Das Paradies verlassen zu müssen fällt mir überhaupt nicht leicht. Nur die Mücken, die werde ich ganz bestimmt nicht vermissen. Wir machen uns auf den langen Weg nach Hause. Denn wir fahren mit dem Zug. Ein Abenteuer für uns und besonders für den kleinen Sohn.

Mit dem Nachtzug geht es los. Und in Deutschland dann nochmal mit dem Zug bis nach Bremen.

Jesus ist immer noch da.

Anscheinend will er uns bis nach Hause begleiten.

Im Zug sitzen wir und schauen uns die Urlaubsbilder an. Schauen aus dem Fenster.

Und natürlich haben wir eine Maske auf. Auch Jesus.

Am Nachbartisch haben die Menschen auch Masken auf. Nur leider nicht so richtig. Locker hängen sie unter ihrer Nase. Ich kann nicht anders, ich muss immer wieder hinsehen und daran denken, dass es eben genau so nicht sein soll. Es heißt ja nicht umsonst: Mund-Nasen-Schutz! Betonung auf Mund UND Nase.

Aber da jetzt was sagen, das trau ich mich nicht. Das will ich auch irgendwie nicht riskieren. Nachher bricht hier ein großer Streit aus und unsere Zugfahrt dauert noch eine ganze Weile.

Also tue ich so als würde ich es nicht sehen.

Nicht so Jesus.

Er steht auf und setzt sich an den Nachbartisch. Die Menschen schauen verwundert und rücken ein Stück zur Seite. Und was macht Jesus?

Ganz langsam nimmt er die Maske zuerst des einen und zieht sie über die Nase. Bevor der andere sich ducken kann, macht er dasselbe beim anderen. Dann lehnt er sich zurück, nickt zufrieden und holt die Kamera aus seiner Tasche.

Schnell macht er ein Selfie, von sich und den völlig verdutzten anderen beiden. Er legt das Polaroid Bild auf den Tisch, nickt noch einmal freundlich. Und sagt dann: Ich mag die Maske auch nicht, aber ich denke eben nicht nur an mich, sondern vor allem auch an alle anderen. So bin ich halt, war ich schon immer. Probiert das doch mal aus! Das tut gut und so werden wir alle nicht krank!

Dann steht er auf und setzt sich wieder zu uns. Schaut aus dem Fenster und tut so als wäre das alles nie passiert. Den Menschen am Nachbartisch steht bestimmt der Mund unter der Maske offen. Doch sie lassen die Maske wo sie ist und sagen kein Wort.

Urlaubsbild Vier: Wer sich selbst unbedeutend macht, wird von Gott groß gemacht werden.

Als wir in Bremen ankommen ist der Hauptbahnhof voll und hektisch. Alles muss irgendwie schnell gehen und jetzt wollen wir ja auch mal endlich zuhause ankommen. Erst als wir unsere Wohnungstür aufschließen und erschöpft die Koffer abstellen stelle ich fest: wir sind wieder unter uns. Jesus ist weg. Hat sich wohl irgendwo zwischen Bahnhof und Domsheide verabschiedet.

Doch da im Koffer, da liegen sie.

Die Urlaubsbilder. Die Momente in denen ich die Welt anders angesehen habe.

Weil er mich darauf hingewiesen hat.

Die vier Bilder:

Mit Cappuccino, der Wasserflasche, dem Segen und der Maske.

Mit Jesus.

Denn auch der, hätte ganz bestimmt eine Maske getragen.

 

Amen.

 

Gehalten am 23. August 2020

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