Maria, warum schreist du nicht?

 Maria, warum schreist du nicht?

Anders als alle anderen Frauen, die ein Kind gebären, schreist du nicht. Hattest du denn keine Wehen?
Reicht ein göttliches Kind, um eine schmerzfreie Geburt zu haben? Das glaube ich nicht, Maria.
Ich glaube da fehlt was in der Geschichte, die jedes Jahr wieder erzählt wird. Da fehlt so viel. Über dich.
Als du erfahren hast, dass du schwanger bist Maria, was war da dein Bauchgefühl?
Mama sein. So unvorbereitet, so merkwürdig ungeplant, von jemand anderem geplant. Für und ohne dich.
Ahntest du was? War dir übel oder taten deine Brüste weh? Das steht nirgends Maria. Wie war es?
Rein warst du angeblich. Aber was heißt das schon? Aufgeschrieben viele Jahre später, von Männern.
Irgendwelche Männer, die fanden die Mutter von Jesus muss rein sein, sonst stimmt da was nicht.
Ahnungslos waren sie doch diese Männer. Ahnungslos, sie haben dich ja auch nicht gekannt.
Mächtig war aber genau dieses Wort Maria, das sie da aufgeschrieben haben. Von nun an warst du rein.
Allezeit, in Ewigkeit. Wurdest ein Vorbild, solltest eins sein.
Rein. Unbefleckt. Jungfrau. Was für ein Quatsch, oder Maria?
Ist es nicht so? Das geht doch gar nicht. Oder? Und vor allem muss das so sein?
An deiner Stelle hätte ich laut gelacht, als der Engel kam. Nachgehakt, warum denn ausgerechnet so?
Mit Jungfrau und so. Und warum musstest du eigentlich so jung sein? 14 Jahre vielleicht.
Andere Mädchen bekommen da grad erst ihre erste Periode und du schon schwanger.
Richtig ist das nicht. Zumindest heute werden 14-jährige Schwangere sehr gemustert.
Ist das nicht noch ein Kind? Wie soll die eine Mama werden?
Aber du Maria, du warst eben damals so genau richtig. Jung, rein. Bereit. Ohne Widerworte.
Machen wir uns doch nichts vor, du bist die perfekte Figur für die Mama vom Weltenretter, vom König.
Anders als die anderen, schön, gläubig. So fügst du dich. Doch.
Reicht das? Für mich nicht. Und für so viele andere nicht. Da fehlt doch was.
Irre ist es doch zu glauben, du bist eine reine Frau, sagst zu allem Ja und Amen. Bist fügig und still.
An deiner Stelle wäre ich anders gewesen. Und ich glaube, du warst anders.
Maria, du warst doch schwanger! Mit allem was dazu gehört. Übelkeit, Müdigkeit, Euphorie und Tränen.
Abends wenn die Alpträume kamen: Denn was, wenn das Baby nicht gesund ist? Wenn was schief geht?
Regelrechte Explosionen in deinen Brüsten, in deinem Bauch sind passiert.
Ich kenne das Maria. Ich fühle mit dir. Besonders dieses Jahr. Es ist nicht immer schön schwanger zu sein.
Anders als in der Werbung, anders als auf den Bildern, die dich so lieb und brav zeigen. Nein, so nicht.
Mit dir Maria bin ich schwanger. Mit dir gehe ich auf schmerzenden Füßen. Mit dir stöhne ich.
Alle Jahre wieder hören wir deine Geschichte und ich höre sie dieses Jahr nochmal neu.
Richte sie gerade in meinem Kopf. Kann nicht an die stille Nacht glauben. Denn du hast doch geschrien?
In dem Stall. Unter den Schmerzen. Allein mit dem Vertrauen auf die Hand von Josef.
Allein mit dem Vertrauen, dass dein Körper das kann. Und ja, dass Gott bei jeder neuen Wehe bei dir ist.
Maria, du hast doch geschrien, oder? Da mitten in der stillen Nacht? Bitte sag Ja.
Alles sonst, kann ich nicht glauben. Alles Gerede von Reinheit und Geburt ohne Blut. Wo ist das Blut?
Rausgewaschen ist es, aus all den schönen Bildern der Krippenszene. Reingewaschen ist es.
Ich will das Blut sehen. Ich will deine Schmerzensschreie hören. Ich will, dass du wie eine Frau gebärst.
Als ganz normale Frau. Wie ich. Und wie so viele andere. Ich brauche das. Denn:

Möchten wir nicht glauben, dass da in der Nacht Gott als Mensch auf die Welt kommt?
Als Mensch wie du und ich? Wie jedes kleine Baby? Unter Schmerzen, mit Blut und Schreien.
Risikoreich da mitten im Stall, ohne Hebamme. Nur mit dir Maria. Und Josef. Und Gott.
Ist es nicht das, was wir jedes Jahr wieder erzählen: Gott kommt als Mensch auf die Welt.
Anders, als wir es alle erwartet haben. Als schreiendes, hilfloses Baby. Aus der Vagina der Mama.  
Maria, du bist die Mama. Ob du es wolltest oder nicht. Mama mit blutiger Geburt und Tränen.
Alles andere kann und will ich nicht glauben. Ich bin bei dir Maria, wenn du endlich mal schreien willst!
Rechts neben dir steh ich und schreie mit dir: Gegen die Reinheit und Heiligkeit an. Für dich und dein Kind.
Im Boot mit allen Frauen, denen du ein falsches Vorbild sein solltest. Falsch weil von Männern ausgedacht.
An die Wand gehängt als das männliche Traumbild einer stillen, fügsamen Frau.

Maria, komm, schrei mit mir! Mit uns! Wie in deinem alten Lied für die Vergessenen und Unterdrückten.

Achtung hier kommt Maria: Die schwanger war und ein Kind bekommen hat, mit Schmerz und Blut.

Rufen wir es in die Kreissäle, in all die schreienden Frauen, die ein Kind bekommen: Maria war wie ihr!

In dem Moment des tiefsten Schmerzes, der unglaublichsten Kraft ist sie bei euch!

Alle Jahre wieder erzählt sie die Geschichte der unglaublichen Kraft der Geburt.

Machen wir uns frei von der Klischee-Krippe. Von der stillen Nacht und dem Pipapo der Reinheit

Alle zusammen singen wir für dich Maria, du starke Frau. Du vergessenes Vorbild.

Reißen wir das alte Bild ab, malen dich so, wie es zu dem passt, worauf wir an Weihnachten hoffen:

In die Welt kommt Gott. Als Mensch. Als runzliges, blutiges Baby. Aus deinem Körper, durch dich. Maria.

Amen. 

 

 Gehalten am 20. Dezember 2020, 4. Advent

 

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