In Erwartung

 Was erwartest du eigentlich?

Stille.

Keine Antwort. 

Nur der Atem ist zu hören. 

Die Zunge will Worte formen. 

Doch sie weiß nicht welche. 


Was erwartest du eigentlich? 

Sie weiß es nicht. 

Nicht mehr. 

Hat es vielleicht mal gewusst. 

Ihre Zunge hat vielleicht mal unendliche Wörter gewusst.

Unendlich viele Pläne und Ideen für ein Leben. 

Eine Geschichte. 

Erwartungen. 

Doch sie sind weg. 

Es gab zu viele andere.

Erwartungen anderer.

Und sie hat sie erfüllt. 

Immer wieder, immer neu. 

Immer anders.

Und jetzt weiß sie keine Antwort.


Was erwartest du eigentlich?

Du, Maria. 


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Was konntest du erwarten von deinem Leben? 

Nicht viel. 

Damals vor über 2000 Jahren ca. So genau wissen wir das ja auch nicht. 

Da in Nazareth, einer kleinen Stadt, Teil des großen, nein riesigen, römischen Reiches. Beherrscht warst du von der großen Macht, beherrscht warst du von der Gesellschaft. Den Vorstellungen und Ideen und Hierarchien. 

Ob du das so gemerkt hast in deinem Alltag wissen wir nicht. Es war ja alle normal. Das ganze Beherrscht-sein. Du hast es nicht anders gekannt.

Denn du warst einfach nur ein jüdisches Mädchen aus Nazareth.

Du warst nicht reich. Denn sonst wärest du nicht mit einem Handwerker verlobt gewesen. Du warst mitten aus dem Volk, ein Mensch wie du und ich.  Du konntest nicht viel vom Leben erwarten, nicht mehr als: 

Heiraten und Kinder bekommen und arbeiten. 

Und vielleicht war das für dich auch gar nicht wenig?

Vielleicht war das für dich genau das, was du vom Leben erwartet hast.

Heiraten mit 12 oder 13 Jahren. Nach rabbinischer Auffassung verlobte man sich damals eben mit 12. 

Ein Jahr war man verlobt. Ein Jahr hast du noch zuhause gelebt bei deiner Familie, rechtlich warst du aber eigentlich schon verheiratet. 

Du gehörtest schon zu Josef, dem Handwerker. 

Ein Dazwischenjahr sozusagen. 

Und du hast gewartet:

Auf die Hochzeit, auf dein Leben in einem neuen Haus. 

Auf die Aufgabe Mutter zu werden. 

Denn das war die Erwartung an dich: Heiraten und Kinder kriegen und arbeiten. Und es war bestimmt auch darum deine Erwartung an dich.

Maria, ein jüdisches Mädchen aus Nazareth. 


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Und dann kam alles ganz anders, als du es erwartet hattest.

Anders, als es alle erwartet hatten. 

Zumindest, wenn wir den Berichten glauben, die wir haben. 

Die vier Evangelien, die auch alle anders erzählen und doch sich einig sind: Maria, es kam so, wie du es erwartet hattest: Du wurdest Mutter. 


Und es kam eben doch anders. 


Dein Kind war besonders. 

Und damit auch du. 

Die Geburt und alles drumherum. 

Alles war besonders.

Und genau das wurde von nun auch von dir erwartet. 


Wobei halt. Erst einmal war dein Kind besonders. 

Angekündigt von einem Engel. 

Erschaffen von Gott. 

Es ging um das Kind, um Jesus, den Messias. 

Von Beginn seines Lebens an von Gott gewollt und geschaffen. 

Das sollte betont werden, es ging um dein Kind. 


Und dann ging es plötzlich auch um dich. 

Und die Erwartungen fingen an. Die Erwartungen an dich Maria. 

Dieses eine kleine Wort: Parthenos.

Ein männliches Wort ausgerechnet. 

Die Jungfrau, im griechischen männlich. 

Oder auch die junge Frau. Beides kann dieses Wort bedeuten.

Und genau das warst du: eine junge Frau und im Zustand der Verlobung eben auch eine Jungfrau. 

Mit 12 Jahren eigentlich auch kein Wunder. 


Und dann geht der Rattenschwanz der Erwartungen so richtig los:

Du Maria warst Jungfrau und du warst die Mutter des Messias. 

Einzigartig, wunderbar rein von allen Sünden. So sollten doch bitte jetzt alle Frauen sein. Was sie natürlich nicht können, denn den Messias gibt es eben nur einmal. Also ist klar, dass nie irgendeine Frau an dein Ideal heranreichen können wird. Nur war das anscheinend nicht klar.

Und wisst ihr was?


Diese Erwartungen, diese Verknüpfung von Jungfräulichkeit und Sünde ist sowieso absolut keine Erwartung an dich gewesen. Und auch nicht an deine Kinder und Enkel und Urenkelkinder.

Dieser Rattenschwanz der Erwartungen kam später. Nirgendwo in deiner Geschichte wird dein Jungfrau sein überhaupt mit Sexualität und Sünde verknüpft. Nirgendwo steht, dass du besonders toll warst, weil du Jungfrau warst. 

Das Besondere sollte sein, dass Gott ein Kind erschafft. Es sollte den Messias Jesus von Anfang als besonders kennzeichnen. Von Gott geschaffen und eben doch ein Baby im Bauch einer Mutter. 

Ein richtig, echter Mensch. 

Das war das Ziel des kleinen Wortes Parthenos und der Beschreibung, dass der Geist da mit dabei war. 

Der Geist, der eben wir ganz am Anfang über der Erde schwebte und mit bei der Schöpfung dabei ist. So ist er es auch bei Jesu Schöpfung. Und zwar nicht irgendwie im körperlichen Sinne oder gar als Erzeuger. Der Geist ist weiblich im hebräischen, diese eventuelle Deutung ist schierer Humbug. 


So wie so viele Erwartungen an dich Maria Humbug sind.

Was haben sie nur aus dir gemacht?

Das Idealbild einer keuschen Frau, liebevoll, nichts anderes vom Leben erwartend als Mama sein von ganzem Herzen. 

Und wer hat das von dir erwartet: zu allererst Männer. 

Die es vielleicht auch einfach nicht ertragen konnten, dass da ein einfaches Mädchen die Mutter Jesu sein soll. Die dich lieber nur noch als Gefäß betrachtet haben: Gefäß für den Sohn Gottes und Instrument Frauen beherrschen zu können. Die dir alle macht genommen haben. 

Die dir deine Macht nicht zugestanden haben. 


Denn die hattest du. 

Du singst mit das machtvollste Lied in der Bibel. 

Du singst über den Gott, der die Mächtigen vom Thron stürzt. Der die Herrschaft der einen über die anderen beendet. Und die ansieht, die sonst niemand ansieht. Denen keiner zuhört, die nur beherrscht werden. 

So wie du eben. 

Du Maria hattest genau das erwartet.

Und dann kam Gott. 

Hat dich gesehen und aus dem jüdischen Mädchen aus Nazareth die Mutter des Messias gemacht. 

Er hätte sich ja auch eine reiche Frau eines römischen Herrschers aussuchen können! 

Hat er aber nicht. 


Es handelt sich hier um Revolution. 

Um eben gerade das Ändern von Erwartungen. 

Das Größte kommt in das Kleinste.

Oben und Unten werden umgedreht. 

Das konnte niemand erwarten.

Und es haben so viele darauf gehofft. 


Und hoffen noch heute. 

Denn Maria, die Erwartungen an dich hören nicht auf. 

Sie haben über die Jahrtausende bestanden: 


Ein Dogma hat dich zur ewigen Jungfrau erklärt.

Auch deine Geburt soll schon besonders gewesen sein. 

Du wurdest zur Gottesgebärerin erklärt.

Alte Statuen in denen du machtvoll aussiehst mussten weichen. 

Neue Bilder von dir als brave Frau in blau mussten kommen. 

Du bist bis heute ein Grund warum vielen Frauen erklärt wird, dass Jungfräulichkeit heilig ist. (Und wir überlegen jetzt nochmal, dass du 12 warst, als du geheiratet hast und davor Jungfrau gewesen zu sein ganz logisch ist, weil Kinder konntest du sowieso erst dann bekommen. Die ganze Legitimation des Verbots von Sex vor der Ehe also auch Humbug ist)

Mit der Erwartung an dich als reine Frau werden werden bis heute Frauen unterdrückt.

Wird Frauen die Macht aberkannt. 


Und es gibt genau die anderen Erwartungen, eher seit kurzem und doch ebenso groß:


Du Maria bist der weibliche Teil, der uns in unserem Gott genommen wurde. 

Du bist für viele die Chance den fürsorglichen, liebenden Teil unseres Gottes zu betonen und zurückzuholen. 

Für viele Frauen bist du das Ohr für die Gebete, die nicht an einen männlichen Gott gehen sollen. 

Du wirst teilweise selbst eine Göttin. 

Du bist die Stimme der katholischen Frauen von Maria 2.0, die für Gleichberechtigung kämpfen, du bist die Stimme der Befreiungstheologie aus Lateinamerika. 

Dein Lied haben dort viele in einem Amulett um den Hals hängen. 

Von dir wird erwartet die Revolution zurückzubringen und die Macht neu zu verteilen. 


Erwartungen über Erwartungen.

Völlig verschieden. 

Existenziell.

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Was erwartest du eigentlich?

Stille.

Nach so vielen Jahrhunderten, nach so vielen Bildern, nach so vielen Erwartungen an dich. 

Was sollst du da auch sagen?

Sie werden doch wieder das daraus machen, was sie erwarten wollen. 

Also schweigst du lieber. 

Schaust uns an. 

Aus deiner Geschichte heraus.

Singst dein Lied wie jedes Jahr:


Meine Seele lobt die Lebendige,

und mein Geist jubelt über Gott, die mich rettet.

Sie hat auf die Erniedrigung ihrer Sklavin geschaut.

Seht, von nun an werden mich alle Generationen glücklich preisen, denn Großes hat die göttliche Macht an mir getan,

und heilig ist ihr Name.

Ihr Erbarmen schenkt sie von Generation zu Generation

denen, die Ehrfurcht vor ihr haben.

Sie hat Gewaltiges bewirkt.

Mit ihrem Arm hat sie die auseinander getrieben,

die ihr Herz darauf gerichtet haben,

sich über andere zu erheben.

Sie hat Mächtige von den Thronen gestürzt und

Erniedrigte erhöht,

Hungernde hat sie mit Gutem gefüllt

und Reiche leer weggeschickt.

Sie hat sich Israels, ihres Sklavenkindes, angenommen

und sich an ihre Barmherzigkeit erinnert,

wie sie es unseren Vorfahren zugesagt hatte,

Sara und Abraham und ihren Nachkommen für alle Zeit.


Schaust uns an. 

Und fragst dann ganz einfach zurück:


Was erwartet ihr eigentlich?


Amen.



gehalten am 4. Advent 2021

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