Wandern mit Unbekanntem

 0 Die Anzeige 

„Suche Wanderfreunde und Freundinnen! Wer hat Lust mit mir am Wochenende die Schuhe zu schnüren und die Wanderlust zu spüren? Alleinstehender Witwer sucht Gleichgesinnte.“ 

Das war die Anzeige. Versehen mit einer Telefonnummer. Am Montag in der Regionalzeitung ganz klein neben den Angeboten für neugeborene Welpen und aussortierte Haushaltsgegenstände, stand sie. 

Und so stand er jetzt da, der alleinstehende Witwer. 

Am Samstag danach. 

Er stand am verabredeten Treffpunkt und wartete auf seine Gleichgesinnten. Ein bisschen aufgeregt war er, denn er kannte die Menschen ja nicht, die ihn angerufen hatten. 

Immerhin 4 Anrufe hatte er gehabt und alle wollten mit ihm heute wandern. Den nahegelegenen Wald hatten sie ausgesucht, erst mal eine kleine Runde, um sich kennenzulernen. 

Er schaute sich um. Noch war niemand zu sehen, er war allerdings auch eindeutig zu früh. Seitdem er alleine war, ging morgens einfach alles immer viel schneller. Mit wem sollte er denn auch lange reden? Die Zeitung antwortete ihm nicht. Und ein Brötchen war schneller gegessen, wenn man alleine war. 

Er seufzte tief und schüttelte den Kopf. Nein, heute nicht. Heute nicht dieses enge Gefühl in der Brust und der dunkle Schatten, der ihn verfolgte, seitdem sie nicht mehr da war. 

Genau darum wollte er doch wandern. Mit anderen zusammen. 

So wie sie zu zweit immer gewandert waren, Hand in Hand. 

Doch bevor der dunkle Schatten wiederkommen konnte, sah er eine Gestalt, die auf ihn zukam. 


I Treffpunkt (Demut) 

Endlich hatte sie ihn gefunden, seit einer Stunde hatte sie sich hier jetzt warm gelaufen und irgendwie den Treffpunkt nicht gefunden. Zu spät kommen, das war so gar nicht ihr Ding, aber jetzt hatte sie es ja geschafft. Ein Blick auf ihre Uhr: Genau auf die Minute. Der Puls sah auch gut aus, der Ring mit den erforderlichen Schritten für heute war auch schon mal angefüttert. Alles im grünen Bereich. Mit leichten Schritten in ihren federnden Turnschuhen kam sie auf ihn zu. Irgendwie verloren sah er da aus, dieser kleine Mann mit dem typischen Wanderoutfit: Gute Schuhe, Kurze Hose, Hemd und Weste und natürlich Rucksack und Wanderstock. 

Er lächelte ihr zu und reichte ihr die Hand. Schön, dass du da bist. Danke für die gute Idee! 

Es entstand eine Pause. Wie das eben so ist, wenn man sich zum ersten Mal begegnet. Dich da kam auch schon der nächste. Mit suchendem Blick, wäre er fast an ihnen vorbeigelaufen. Doch sie winkte mit großen Gesten und er kam zu ihnen. Mit langsamen Schritten und ganz in weißen Leinen gekleidet. Hallo. Ich wusste erst nicht, wo ich hinsollte. Wollten wir uns nicht bei der großen Tanne treffen? 

Die ist doch hier! 

Ja, aber dahinten ist noch eine viel größere. Das hat mich verwirrt. Wenn ich Bäume sehe, schaue ich nach oben. Das ist meine Kathedrale hier, der Wald. So nah an der Schöpfung, so nah am einen großen Schöpfer. 

Er redete und redete und sie verdrehte genervt die Augen, während der Witwer ihm interessiert lauschte. 

Auf wen warten wir denn eigentlich noch? Fragte die junge Frau und schaute auf ihre Uhr. Es ist ja jetzt auch schon zehn nach und wir habe noch was vor! 

Eine Familie wollte noch kommen. Vielleicht sind sie auch bei der größeren Tanne? 

Die drei sahen sich suchend um. Nichts war zu sehen von einer Familie. Stattdessen kam ein junger Mann. Hallo, seid ihr die Wanderfreunde? Ich würde gerne mitkommen. 

Ähm klar. Gerne. Woher wusstest du, wo wir uns treffen? 

Der Witwer war verwirrt. Irgendwie kam ihm der junge Mann bekannt vor. Aber woher? Auch sie sah ihn lange an, gut sah der aus und auch sportlich. Der Pilger bestaunte die ruhige Art, der Mann hatte eine tolle Aura. 

Stand doch in der Anzeige! Sagte dieser und lächelte. 

Achja. Der Witwer überlegte kurz, aber ach, er war oft so verwirrt, das konnte schon so sein. 

Wir warten noch auf Leute, die zu spät kommen oder zu blöd sind die richtige Tanne zu finden, sagte die Frau und lachte. Keiner lachte zurück. 

Der Neuling sagte nur: Die Tannen sind wie sie sind und ich kann nur demütig zu ihnen schauen. Da kann man mal den Weg verpassen. 

Der Pilger schaute begeistert. Bist du auch ein Pilger, ist der Wald auch deine Kathedrale? 

Mal so, mal so, lachte der junge Mann. Aber schaut mal da, ich glaube da kommen sie!

Sie kamen. Lachend und rennend: Zwei Kinder und zwei Frauen. Entschuldigung, riefen sie. Aber die Kinder mussten hinter jedem Baum verstecken spielen und dann waren wir wohl erst bei der falschen Tanne. Wir hoffen ihr habt nicht lange gewartet?


II Outfit (Freundlichkeit) 

Ach Quatsch, schön dass ihr da seid, sagte der Witwer. Dann sind wir ja vollzählig! 

Da standen sie nun. Der Pilger in weißen Leinen, die Sportlerin in hautenger Fitnesskleidung, der Witwer im Wanderoutfit, der junge Unbekannte in Alltagskleidung, die Kinder mit bunten Sonnenhüten und die beiden Frauen mit Birkenstocks. 

Alle beäugten sich ein wenig. 

Mama, warum hat der Mann weiße Klamotten an, ist er Arzt? 

Mama, warum sieht die Frau aus, als will sie turnen? 

Betretenes Schweigen und ein böser Blick der Sportlerin. Die beiden Mamas schauten zu ihren Kindern und flüsterten ihnen ins Ohr, das man sowas doch nicht sagt. 

Der Unbekannte lachte nur und setzte sich zu den Kindern:

Wisst ihr was. Genau das hab ich mich auch gefragt. Und wisst ihr noch was? Ich finde jeder und jede kann tragen was sie wollen. Hauptsache es passt zu uns und unserem Weg. Und Hauptsache wir sind freundlich zueinander, ok?

Die Kinder nickten eifrig. 

Gehen wir jetzt los? 


III Weg/Ziel (Güte)

Alle stimmen zu. Darum sind sie ja hier, um zu wandern, oder? 

Also ich hab da mal eine Route rausgesucht, sagt der Witwer und kramt eine alte Karte hervor. Meine Frau und ich sind da früher immer lang gelaufen, da gibt es auch einen tollen Bach. Die Kinder jubeln schon, doch die Sportlerin schaut nicht begeistert. Sie zeigt auf ihrer Uhr eine Route. Also ich dachte wir laufen hier lang und dann nochmal die große Runde da. 

Die Mamas schauen etwas entgeistert, das ist aber ganz schön weit! 

Und da stehen auch nicht die ganz hohen Bäume wirft der Pilger ein. Der Witwer schaut auf seine Füße, ich glaube das machen meine alten Knochen nicht mit leider.
Und wir dachten wir können am Ende in das schöne Restaurant einkehren? Sagen die Mamas und die Kinder erzählen von den versprochenen Pommes, nur deshalb sind sie doch heute mitbekommen. 

Aber was ist mit meinem Schrittziel? Und Pommes, das kann ich nicht essen, das passt nicht in meinen Ernährungsplan! Ich dachte wir gehen wandern und nicht spazieren. Die junge Frau wirkt wirklich ärgerlich und auch enttäuscht. 

So stehen sie also immer noch da und kommen nicht los. 

Da zeigt der Unbekannte auf einen Wegweiser hinter der nächsten Biegung. Schaut mal, lasst uns doch einfach losgehen, wir folgen dem ersten Schild und schauen mal wohin wir kommen. Und achten aufeinander, auf Schritte, auf alte Knochen, auf hohe Bäume und natürlich auf Pommes. 


IV Tempo (Geduld) 

Na gut, denken sich alle und ziehen los. Die Sportlerin vorneweg, die Kinder hinterher - bis sie nach einer Minute ein Loch im Boden entdecken. Guck mal Mama! Wer wohnt da unten? Vielleicht ein Fuchs? Oder ein Troll?

Die Mamas stellen sich um das Loch und schauen hinein. Vielleicht ja auch eine Maus? 

Der Pilger, der Witwer und die Sportlerin gehen weiter. Los Kinder, nicht immer stehen bleiben, sagt die Mama ermahnend. 

Doch nach fünf Schritten ist ein Käfer da und dann ein besonderes Blatt und dann muss einer mal Pipi. 

So kommen wir ja nie irgendwo hin, denkt der Witwer und die Sportlerin ist schon fast nicht mehr zu sehen. 

Der Pilger steht mit geschlossenen Augen auf dem Weg und atmet konzentriert. Irgendwie hatte sich der Witwer das anders vorgestellt mit dem gemeinsamen Wandern. Wäre sie doch nur noch da. Er seufzt und spürt plötzlich eine Hand auf seiner Schulter. 

Der Unbekannte steht vor ihm und legt seine zweite Hand auf die Brust des Witwers, genau da wo sein Herz gerade wieder stechen will. 

Hab Geduld.

Sagt er und der Witwer spürt wie sein Herz ganz ruhig wird. 

Er atmet tief durch und schließt die Augen. Als er sie öffnet ist der Unbekannte schon weitergegangen. 



V Pausen (Erbarmen) 

So wandern sie. Die Sportlerin vorne, dahinter der Witwer und der Pilger, die doch so langsam ins Gespräch kommen über Suche und Sinn und Baumgräber. Zum Schluss die Mamas und die Kinder immer mal da und mal da. Genau wie der Unbekannte. 

Ich glaub ich brauch mal eine Pause sagt der Witwer nach einer Weile. 

Gute Idee, da vorne ist ein toller Baum dafür sagt der Pilger. 

Och nö. Ich will jetzt Pommes! Maulen die Kinder und die Sportlerin seufzt nur. Ihre Uhr zeigt noch lange nicht die erforderlichen Schritte an. Da steht der Unbekannte auf einmal neben ihr und legt die Hand über die Uhr. 

Wir alle haben verschiedene Uhren. Die einen ticken langsam und die anderen schneller. Hab Erbarmen mit den langsamen. Wie lange kannst du so schnell bleiben? 

Sie schaut ihm tief in die Augen und ihre Wangen werden rot. 


VI Gehen mit Lied (Liebe)

Und so sitzen sie dann da unter dem Baum. Nicht besonders weit sind sie gekommen. Doch gerade ist es allen egal. 

Die Mamas haben die Brotboxen ausgepackt, der Witwer auch. Die Kinder stürzen sich auf die Packung Kekse, die der Pilger aus seiner Leinentasche hervorzaubert und die Sportlerin nimmt auch einen. 

Sie unterhalten sich über Wanderungen, die sie schon gemacht haben und über die, die sie noch machen wollen. Himalaya, Zugspitze, Brocken, der Jakobsweg. Träume vom Laufen und sich treiben lassen, vom Spüren der Natur und der eignen Begrenztheit. Die Kinder finden Wandern grad gar nicht mehr so schlimm und träumen weiter von den Pommes. Die Sportlerin macht ihre Uhr ab, die Schritte schafft sie sowieso nicht mehr heute. Der Pilger und die Kinder spielen Verstecken und die Mamas tauschen sich mit dem Witwer über Kuchenrezepte aus. Vielleicht backen sie mal zusammen, er hat da noch ein Buch mit den Lieblingsrezepten seiner Frau. 

Und ob sie nicht mal zusammen Yoga machen wollen fragt die Sportlerin. 

So sitzen sie da und haben alle Konflikte der letzten Stunden vergessen. 

Hauptsache sie sind zusammen auf dem Weg. Mit Pause und unterschiedlichem Tempo und einem gemeinsamen Ziel. 

Mit Demut, Freundlichkeit, Güte, Geduld und Erbarmen. 

Sie sind sich einig, dass sie ohne den Unbekannten bestimmt im Streit geendet wären und die Wanderung abgebrochen hätten. 

Wie hast du das gemacht? Woher wusstest du, was wir in dem Moment brauchten? Fragt ihn die Sportlerin. 

Doch er ist nicht da. 

Der Unbekannte sitzt nicht mehr bei ihnen. 

Auch die Kinder finden ihn nicht beim Verstecken spielen. 

Alle wundern sich sehr. 

Niemand kennt seinen Namen und doch haben alle das Gefühl ihn gut zu kennen. Niemand hatte sie je so verstanden. Nie so das Herz berührt. 

Wo ist er nur hin? 

Verwundert sitzen sie da. 

Bis der Witwer vorschlägt:

Auch wenn er weg ist. Vielleicht kann er uns ja noch hören?

Vielleicht singen wir einfach ganz laut?

Ohja alle nicken. 

Ein Wanderlied. 

Ein Lied über diese Wanderung heute.

Über diesen Weg. 

Mit ganz viel Liebe. 

Und vor allem zusammen.

Trotz allen Unterschieden und gerade deswegen eben zusammen. 


Und so stehen sie da auf dem Weg, umgeben von den hohen Bäumen und dem offenen Himmel. 

Singen aus voller Kehle und ganzem Herzen mit all ihrer Kraft. 


Wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen.

Und neu beginnen ganz neu. 

Da berühren sich Himmel und Erde. 

Dass Frieden werde unter uns. 





gehalten am 15. Mai 2022 über Kolosses 3

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