Und dein Herz bricht.

Da erzählt dir deine Freundin von einem ganz tollen Buch. Großartig und so bewegend sagt die Freundin, du musst unbedingt auch dahin, das musst du unbedingt auch lesen! Mir hat es so gut gefallen und die Botschaft am Ende - einfach bewegend und lebensverändernd. 

Und dann kaufst du das Buch, oder leihst es dir aus, willst diese bewegende Geschichte auch hören und fühlen, hast die größten Erwartungen und freust dich. 

Und dann bricht es dir dein Herz. 


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Denn die Geschichte erzählt dir von einer Frau, die versklavt ist. Ja, sie sagen das anders, die, die dir die Geschichte erzählen. Da wird die Frau „Magd“ oder „Dienerin“ genannt. Das klingt nach Mittelalter oder einem großen Schloß oder der britischen Serie Downton Abbey. Schon nicht schön so als Dienerin, aber doch in Ordnung. Spaß hast du doch bestimmt zwischendrin in deinen Pausen, so schlimm ist das doch nicht. 

Und es bricht dir das Herz. 

Weil du das wahre Wort kennst: Sklavin.

Ein Mensch ohne Rechte. Ein Mensch, nein, kein Mensch.

Eben genau nicht.

Eher ein Gegenstand, ein nützliches Ding für den Nutzen anderer. Einer, der alles macht, was verlangt wird. Weil er es muss. Weil sie es muss. 

Gekauft für Geld, so wie andere sich einen Besen kaufen, damit das Haus sauber wird. Nur in diesem Fall ist es eigentlich ein Mensch, der aber den Status eines Besens hat. Putz, Koch, Räum auf, Arbeite bis du nicht mehr kannst und weiter. Das sagt der mit dem Geld.

Der mit dem Geld hat die Macht und die ohne hat nichts. Keine Rechte, keine Gefühle. Bestimmt wird, wie sie zu leben hat, wo sie zu leben hat, was sie zu fühlen hat, was sie zu denken hat.

Die Menschlichkeit wird aberkannt, wenn du eine Sklavin bist. 

Und sie ist eine Sklavin. 

Muss arbeiten und arbeiten und das machen, was die Mächtigen sagen. Alles ohne wenn und aber. 

Beschweren kommt nicht in Frage, du hast doch gar keine Gefühle Sklavin! Das kannst du dir nicht leisten. 

Also macht weiter. Wehr dich nicht.

Du bist ohnmächtig. 

Du Sklavin. 

Und dein Herz bricht. 


Denn die Geschichte erzählt von einer Frau, die rassistische Gewalt erlebt. Ja, sie sagen das anders, die, die dir die Geschichte erzählen. Sie sagen nur, dass sie aus Ägypten kommt und eben eine Fremde ist, das sagt schon ihr Name. „Hagar“ ist hebräisch und bedeutet die Fremde. Fremd ist sie, gekauft aus einem anderen Land. Sie sieht anders aus, sie hat eine andere Kultur, sie ist fremd. Sie ist ihren Herrschern fremd. Und fremd ist nicht gut für die. Es ist nicht normal, wie die Herrschenden sagen. Wir sind normal, das Fremde ist es nicht.

Und es bricht dir das Herz.

Weil du sie siehst, die Fremden, die doch gar nicht fremd sind, sondern einfach auch Menschen, so wie du - eigentlich. Und die ausgelacht, vorverurteilt, ausgegrenzt, geschlagen, getötet werden. Weil sie fremd sind für die, die sich für normal halten. Weil Rassismus schon immer ein Thema war. Ein grausames, ein tötendes. Scheinbar klein fängt es manchmal an, wenn gefragt wird beim netten Frühstück, ob denn die neuen in dem Haus da eigentlich Deutsche sind. Wenn „Ich hab ja gar nichts gegen Ausländer…“ ein fettes aber folgt und dann die Partei gewählt wird, die sich nur für ein Land einsetzt, die von Ausgrenzung und Ausweisung dieser „Ausländer“ träumt, was nichts anderes als Gewalt ist, grausame Gewalt, menschenverachtende Gewalt. Und überhaupt das Wort „Ausländer“ schon, nicht mein Land, nicht normal, fremd eben.

Dabei sind alle Länder normal, nein nicht normal, sondern würdig. Jede Kultur, jeder Mensch ist würdig - Menschenwürdig. Nichts, gar nichts, keine Hautfarbe, keine Sprache, kein Aussehen, kein Brauch rechtfertigt eine Verurteilung deswegen. Nichts, gar nichts rechtfertigt Gewalt, Unterdrückung, Versklavung, Rassismus. 

Hagar die fremde Sklavin wird rassistisch und imperialistisch beherrscht.

Sie hat keine Rechte und soll sich nicht beschweren. 

Mach weiter, wehr dich nicht, die Dinge sind hier so wie sie sind. 

Du bist ohnmächtig.

Du fremde Sklavin. 

Und dein Herz bricht. 


Denn die Geschichte erzählt von einer Frau, die vergewaltigt wird. Ja, sie sagen das anders, die, die dir die Geschichte erzählen. Sie sagen nur, dass Abraham mit ihr schläft, oder noch besser „dass er bei ihr liegt.“ Und dann ist sie auch schon schwanger. 

Und es bricht dir das Herz. 

Weil du sie siehst. Hagar, die nicht mit Abraham schläft und nicht bei ihm liegt. Er liegt auf ihr, er hat Sex mit ihr, weil er das so entschieden hat. Weil seine Frau sagt: Du brauchst ein Kind, also los. Hagar wird nicht gefragt. Hagar sagt nicht Ja. Und wenn sie nicht Ja sagt, dann ist das Gewalt. Dann ist es sexualisierte Gewalt und hier eine Vergewaltigung. Unhinterfragt, einfach erzählt. Und alle, die das erleben musste. Alle, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, denen bricht es das Herz, wieder und wieder. Die können nicht darüber hinweglesen, sondern hören auf zu lesen. Werden wütend und enttäuscht wie so eine Geschichte erzählt werden kann, ohne das zu thematisieren. Wie eine Geschichte einfach weitergehen kann, als wäre nichts gewesen. Denn war da was? Vielleicht wollte Hagar das doch, das steht da doch gar nicht? Vielleicht hatte Hagar auch einen zu kurzen Rock…? Frauen sollen sich doch bitte nicht wundern…

Und dann wird dir schlecht. Weil es so schrecklich ist. Weil immer noch Verteidigungen kommen und das Patriarchat, der Glaube, dass Männer besser sind als Frauen und darum die Welt beherrschen können, inklusive der Frauen, seine dicken Krakenarme ausstreckt. Und mit diesen Krakenarmen alles, was ihre Macht hinterfragt, beginnt zu erwürgen. Mal offensichtlich und mal ganz unscheinbar. Wenn sich die evangelische Kirche nur bei den Betroffenen sexualisierter Gewalt entschuldigt und die Täter nicht offen und klar verurteilt. Wenn andere Themen scheinbar wichtiger sind. Wenn immer neue Betroffene sprechen und viele Kirchenmenschen dazu schweigen. Wenn es Entschuldigungen gibt, dass es eben damals einfach anders war. 

Nein, war es nicht. 

Schon nicht bei Hagar und damals im Bremer Dom nicht und heute in Gemeinden und überall sonst auch nicht. 

Hagar ist wie sie, sie kann sich nicht wehren, keiner hört sie.

Die Macht ist lauter.

Sie wird imperialistisch, rassistisch und sexistisch beherrscht. 

Mach weiter, wehr dich nicht, die Dinge sind so wie sie sind. 

Du bist ohnmächtig.

Du fremde Frau, du Sklavin. 

Und dein Herz bricht. 


Denn diese Geschichte ist so grausam. Ja, sie sagen das anders, die, die dir diese Geschichte erzählen. Sie erzählen von der Gründung von Völkern, von Frauen die sich einfach nur anzicken. Von einer unfruchtbaren Frau, die dann doch noch schwanger wird dank Gott - wie weh tut das allen Frauen, die unfruchtbar sind und einen Kinderwunsch haben oder hatten. 

Sie erzählen von dem guten Ende.

Am Ende wird eben immer alles gut, auch in dieser Geschichte.


Und das dazwischen bricht mir das Herz. 

Die Geschichte von Hagar und Sarah und Abraham ist grausam. Sie steckt voller Gewalt und sie kennt alle Unterdrückungssysteme, die bis heute nicht verschwunden sind. Imperialismus, Rassismus, Sexismus - es ist immer noch alles da. So wie Hagar wurden und werden Menschen unterdrückt, wird Menschen Gewalt angetan. Physische, psychische, sexualisierte Gewalt. Und so wie bei Hagar sehen wir das so oft nicht und wollen es auch nicht sehen. Nicht sehen und schon gar nicht kritisieren. 

Denn wie viel leichter ist es doch das gute Ende der Geschichte zu sehen, wie viel leichter ist es doch aus der Perspektive derer zu sehen, die nicht Hagar sind. 


Denn wir sind nicht Hagar. 

Ich bin es nicht. 

Ich bin ein weißer Mensch, ich bin eine weiße Frau. Ich musste in meinem Leben keine sexualisierte Gewalt erleiden, ich weiß nicht, wie es ist wegen meiner Herkunft verurteilt zu werden, ich lebe in einem westeuropäischen und reichen Land. Ich bin ziemlich privilegiert.

Ich lerne das zu wissen. Meine Perspektive zu kennen und dann vor allem zu hinterfragen. Ich lerne die Geschichte zu lesen und die Gewalt zu erkennen. Das schaffe ich nicht immer und ich will es von Herzen versuchen.

Und darum erzähle ich euch heute davon. Ich will, dass auch ihr Rassismus, Sexismus, Gewalt, Unterdrückung seht und benennt. In den Geschichten und in eurem Leben.

Wie der Pastor Quinton Ceasar es beim Kirchentag letztes Jahr gesagt hat: „Wir haben alle Privilegien und können sie für mehr Gerechtigkeit einsetzen. Wir können füreinander Verbündete sein. Wir sind hier. Wir sind viele. Wir sind nie wieder leiser.“


Ich bin nicht Hagar und ich will versuchen Hagar zu sehen.

Nie wieder leiser zu sein. 

Auch wenn das schwer ist. 


Denn auch das sagt Quinton: „Es ist leichter, von befreiender Liebe zu predigen, als eine Liebe zu leben, die befreit.“

Und ich will es versuchen.

Indem ich die Geschichte von Hagar erzähle mit all der in ihr steckenden Gewalt. Und mit der Hoffnung, die auch in ihr steckt. Denn hören wir wieder Quinton zu: „Gott ist immer auf der Seite derer, die am Rand stehen, die nicht gesehen oder nicht benannt werden. Und wenn Gott da ist, dann ist da auch unser Platz. Gott ist parteiisch.“


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Da erzählt dir deine Freundin von einem ganz tollen Buch. Großartig und so bewegend sagt die Freundin, das musst du unbedingt auch lesen! Mir hat es so gut gefallen und die Botschaft am Ende - einfach bewegend und lebensverändernd. 

Und dann kaufst du das Buch, oder leihst es dir aus, willst diese bewegende Geschichte auch hören und fühlen, hast die größten Erwartungen und freust dich. 

Und dann bricht dein Herz

Und dann kannst du die Risse vergolden. 


Weil die fremde Sklavin ein Mensch wird, da mitten in der Wüste.

Aus dem Niemand im Nichts wird ein gesehener Mensch.

Gott sieht Hagar. 

Gott sieht nicht die Herrschenden zuerst. 

Gott sieht nicht die Macht.

Gott sieht die Ohnmacht. 

Gott sieht Hagar.

Sie ist die erste Frau, der Gott in der Bibel erscheint. Gott hilft Hagar und sie gibt Gott, auch als erste Frau, einen Namen. El Roi.

Du bist ein Gott, der mich sieht. 


Gott ist parteiisch. 

Gott ist zuerst bei den Betroffenen von Gewalt und Unterdrückung. 

Gott ist bei den Ohnmächtigen. 


Bei Hagar und allen, die mit ihr leiden. 


Und darum müssen wir das auch sein. 


Amen. 



Predigt gehalten am 14. April 2024

Über Genesis 16,1-16


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