Der Nächste Bitte!
Neulich an der Supermarktkasse.
Eine Frau steht mit ihrem Kind an. Sie legen ihre Einkäufe auf das Band. Das Kind ist stolz zu helfen. Die Kassiererin nimmt jeden Artikel, es macht piep. Die Frau packt die Einkäufe ein, dann nennt die Kassiererin die Summe und die Frau zuckt zusammen. Sie schaut in ihre Geldbörse. Kramt und zählt. Das Kind schaut fragend. Die Kassiererin auch. Die Menschen in der Schlange an der Kasse auch.
Die Frau wird hektisch, sie kramt und kramt.
„Wir müssen zwei Artikel wieder weglegen.“ Sagt sie dann und schaut entschuldigend zu ihrem Kind. „Das Geld reicht nicht.“ sagt sie ganz leise.
Die Kassiererin schüttelt genervt den Kopf. „Das hätten sie sich aber auch früher überlegen können! Was soll ich denn weglegen?“
Die Frau überlegt, zögert, schaut ihr Kind an. „Wird es bald? Hier stehen noch andere Leute an!“ sagt ein Mensch. Die Frau bekommt einen roten Kopf, das Kind schaut zu Boden.
„Wie viel Euro fehlen denn?“ Fragt da der Mensch in der Schlange direkt hinter den Beiden. „5 Euro“ sagt die Kassiererin laut, sodass es alle hören können. Die Frau schaut jetzt auch nur noch zu Boden. „Na dann nehmen sie mal alles mit, ich zahle das.“ sagt der Mensch und lächelt zu den Beiden. Das Kind schaut lächelnd hoch. Die Frau zögerlich. „Wirklich?“
„Na klar!“
Der Mensch gibt der Kassiererin die 5 Euro. Doch die schaut ärgerlich.
„Wo soll das denn hinführen?“ Sagt sie.
„Wenn das jetzt alle machen würden! Woll das denn hinführen?“
Widerwillig nimmt sie das Geld und macht mit dem nächsten Kunden weiter. Die Frau und das Kind packen schnell alles ein und gehen.
Einmal dreht sich das Kind noch um und winkt fröhlich zu dem Menschen, der alles anscheinend irgendwohinführt.
Neulich auf der Familienfeier.
Es gibt was zu feiern, jemand hat Geburtstag. Es kommen die, die immer kommen und es gibt wie immer sehr viel Kuchen und abends wird gegrillt. Die Kinder spielen und die Erwachsenen reden. Einer erzählt vom letzten Urlaub und eine von der anstrengenden Arbeit. Ab und zu kommt ein Kind und will was trinken, oder sich über seine Schwester beschweren.
Dann kommt ein Kind und weint. Es ist hingefallen, das Knie tut weh und die dicken Krokodilstränen laufen über die Wangen. Der Papa nimmt es auf den Schoß. Pustet und lässt die Tränen laufen. Sagt, dass sowas aber auch echt ärgerlich ist und ob das Kind ein Pflaster braucht.
Ein Mensch am Tisch schüttelt den Kopf. „Das Kind braucht doch kein Pflaster. Da ist doch gar nichts! Hab dich mal nicht so! Heul nicht so rum! Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ Das Kind schaut mit großen Augen seinen Papa an. Der schüttelt nur den Kopf und seufzt tief. Er streichelt dem Kind über das Haare und sagt ganz ruhig: „Woher weißt du denn, wie weh es ihm tut? Und abgesehen davon, wir dürfen alle weinen. Wir dürfen sagen, wenn uns etwas weh tut und darüber traurig sein. Und die Indianer gibt es nicht, es gibt verschiedene Stämme der Ureinwohner Amerikas und die dürfen auch weinen.“
Der Mensch gegenüber schüttelt nur den Kopf. „Wo soll das noch hinführen? Wenn wir jetzt alle verweichlichen und nicht mehr sagen dürfen, was wir wollen! Wo soll das denn hinführen?“
Das Kind kuschelt sich noch kurz zu seinem Papa. Dann gibt es ihm einen Kuss und sagt: „Tut gar nicht mehr weh!“ Dann springt es vom Schoß und läuft wieder zum spielen. Einmal dreht es sich noch um und streckt dem Menschen die Zunge raus, und lächelt seinem Papa zu, der anscheinend irgendwohinführt.
Neulich auf dem Sofa.
Es war ein langer Tag, nun ist endlich alles geschafft. Das Sofa ruft. Die Beiden setzen sich hin und legen die Füße hoch. Einer nimmt die Fernbedienung und macht die Nachrichten an. Ist ja wichtig zu wissen, was so in der Welt passiert, auch wenn es einen immer so deprimiert. Auf dem gemütlichen Sofa schauen sie die Welt an. Die mächtigen Menschen, die Entscheidungen treffen. Die armen Menschen, die Hunger haben. Die Menschen, die flüchten.
Die Nachrichten berichten von einem neuen Schiff auf dem Mittelmeer, das Menschen rettet. Menschen, die in winzigen Booten auf dem riesigen Meer treiben. Kleine und große Menschen. Hungrig, krank, verfolgt, vergewaltigt, verstoßen. Die Nachrichten zeigen, wie die Menschen vom unsicheren auf das sichere Boot gehoben werden. Sie sagen, dass das Schiff von der Kirche unterstützt wird und von vielen Spenderinnen und Spendern.
Einer setzt sich auf dem Sofa auf und schüttelt den Kopf. „Wo soll das noch hinführen? Wenn jetzt jeder da gerettet wird. Wo sollen die denn alle hin?“ Er will die Fernbedienung nehmen, doch der andere nimmt sie ihm weg. Er zeigt auf die Bilder von den Kindern, die in Rettungsdecken gehüllt werden. „Die sollen dahin, wo sie Mensch und Kind sein dürfen! Ohne Gewalt, ohne Krieg, ohne Hunger. Mit Medizin, mit Schule, mit Spielen, mit Frieden.“ Der andere brummelt nur was in sein Sofakissen. Und sie gucken weiter, gucken denen zu, die anscheinend irgendwohinführen.
Neulich in der Zeitung.
Am Samstag Morgen schlägt sie die Zeitung auf. Ganz gemütlich im Garten sitzt sie. Mit Kaffee und Brötchen und den zwitschernden Vögeln. Sie liest die erste Seite, die zweite. Nimmt einen Schluck Kaffee. Sie liest über das Neueste aus der Stadt und den Bericht über das tolle Konzert vorgestern. Sie nimmt noch einen Schluck Kaffee. Sie liest über einen entlaufenen Hund und ein neues Straßenbahnprojekt. Sie nimmt noch einen Schluck Kaffee. Und verschluckt sich fast.
Sie liest ein Gedicht. Das Gedicht steht da immer Samstags. Sie mag die Gedichte. Das heute kennt sie sogar. Sie hat es vergessen und jetzt fällt es ihr wieder ein. Sie liest es noch mal und noch mal. Und ihr Kaffee wird kalt.
Sie liest das Gedicht von Kurt Marti:
Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten,
wo kämen wir hin,
und niemand ginge,
um einmal zu schauen,
wohin man käme,
wenn man ginge.
Kurt Marti
Neulich in der Kirche.
Sonntag Morgen. Die Kirche ist erstaunlich voll. Es muss etwas besonderes sein. Ja, da ist ein kleines Kind. Ein ganz neuer Mensch. Geliebt und gesegnet. Die vielen Menschen sind vor allem für das kleine Kind da. Dafür dabei zu sein, wenn es mit Wasser einen Segen für das Leben bekommt. Einen Segen, der nichts verhindern kann. Und immer dabei sein. Ein Segen, der zeigt: Gott hat dich lieb. Gott sagt: Du bist gesegnet und du bist ein Segen für andere! Ich lasse mein Angesicht leuchten über dir, dass du leuchten kannst für andere!
In der Kirche freuen sie sich mit dem Kind. Und sie hören sie alle eine Geschichte, von einem der die Frage „Wo soll das noch hinführen?“ Einfach ignoriert. Von einem Menschen, der leuchtet für andere.
Einer der ausprobiert, wohin man kommt, wenn man geht.
Einer, der irgendwohinführt.
Nein, nicht irgendwo hin.
Dahin.
Dahin:
Wo es leuchtet.
Wo Segen ist.
Wo Liv und alle Kinder geliebt wachsen dürfen.
Dahin:
Wo Gott ist.
Und wo wir sein sollten.
Weil wir gehen.
Weil wir dahinführen.
Dahin, wo Liebe stärker ist.
Amen.
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