Als träumten wir
Träum was Schönes.
Das sage ich jeden Abend zu meinen Kindern. Nach der Vorlesegeschichte und dem Gute-Nacht-Lied. Ein letzter Kuss, Licht aus und träumt was Schönes. Manchmal erzählen wir auch vom Träumelandzug, in den man nur ihn Schlafanzug einsteigen darf und in dem es nur Betten gibt und keine Sitze. Über einem Bett steht dein Name und dann geht die Fahrt los, ich höre schon die Lokomotive tuten, sie klingt wie eine Spieluhr: Ab ins Träumeland.
Licht aus.
Gute Nacht und träumt was Schönes.
Und wenn ich dann zur Tür gehe und das Licht ausmache, sehe ich die Traumfänger am Fenster. Die bunten Netze, die die bösen Träume aufhalten sollen. Ich rieche das Anti-Alptraum Schutzspray, das wir eben noch versprüht haben. Und ich hoffe ganz doll, dass der Träumelandzug heute Nacht keine falsche Abbiegung nehmen wird.
Gute Nacht und träumt was Schönes.
Wenn es doch immer so einfach wäre.
Wenn es doch die anderen Träume nicht gäbe.
Wenn die Träume doch immer schön blieben…
Ein Sommertag, irgendwo auf einer Wiese. Es riecht nach Schwimmbadpommes und Vanilleeis. Die nackten Füße hängen im Wasser und wo eben noch die Wiese war ist nun ein großer Strand. Die Wellen rauschen. Und es fühlt sich an wie damals als Kind, wenn der Strand ein einzig großer Spielplatz war, nie endend, voller Möglichkeiten mit Schaufel und Eimer und einer riesigen Sandburg mit festen Mauern und Muscheltürmen.
Die Wellen rauschen und die Füße werden nass. Die Burg wird höher und höher. Lachen, Kreischen, Rennen und überall ist Sand, aber das macht nichts. Die Sonne scheint und das Wasser ist kühl an den kleinen Zehen, das Leben ist schön, so schön.
Und dann kippt alles.
Wo eben noch alles Sommer war und schön, ist jetzt alles kalt und dunkel. Wo oben und unten ist nicht mehr zu erkennen. Die Wellen krachen aufeinander. Die liebevoll gebaute Burg mit ihrem Burggraben und Muscheltürmchen stürzt ein.
Eben war doch da auch noch ein rettender Bademeister am Strand mit seinem Vanilleeis in der einen und Pommes in der anderen Hand.
Wo ist er jetzt?
Im Strudel des Nichts ist kaum mehr was zu Erkennen. Alles verschwimmt, die Muschel-Türmchen zerfließen und bauen sich neu auf zu Monstern der Tiefe. Sie fletschen die Zähne, sperren ihr Maul auf. Die Zunge klebt am Gaumen, kein Halt mehr irgendwo. Stattdessen ein Strudel des Nichts.
Wo ist oben und wo ist unten?
Warum ist auf einmal alles anders?
Wo ist das Lachen?
Es war doch eben noch so wunderschön?
Und wo bist du?
Warum hast du mich verlassen?
Der Traum wird zum Albtraum.
Und du kannst nichts dagegen tun. Du steckst im Strudel ohne Halt, ohne oben und unten. Auf einmal ist alles anders. Nichts ist mehr, wie es war.
Von einer Sekunde auf die Nächste. Oben und Unten gibt es nicht mehr, keine Rettung in Sicht. Verlassen bist du.
Ein Alptraum.
Von jetzt auf gleich.
Und du wolltest doch noch, du hättest doch noch können, du würdest so gerne nochmal.
Ein letztes Mal.
Bitte, noch dieses eine Mal.
Nur dieses eine Mal.
Ein Mal noch zusammen Vanille-Eis essen. Ein Mal noch zusammen ans Meer fahren und die Füße in den Sand stecken, Hand in Hand spazieren gehen. Ein Mal noch zusammen lachen oder sich zum hundertsten mal über dasselbe streiten. Ein Mal noch alte Fotos ansehen und in Erinnerungen schwelgen. Mit dem Wohnwagen nach Spanien, weißt du noch? Der Hausbau und der Umzug, was haben wir nicht alles geschafft. Die Kinder, die kleinen Füße damals und die Freude über die ersten Schritte. Die dicken Tränen auf deinem Schoß. Der Plausch mit den Nachbarn über den Zaun und immer wieder der Ärger über das viele Laub im Herbst. Einmal noch zusammen im Garten sitzen und sich über das Grün und die Blumen freuen. Ein Mal noch zusammen den Kartoffelsalat essen und die Puffer für die ganze Straße und den Besten Apfelkuchen mit Sahne. Einmal noch den Tannenbaum zusammen schmücken und Silvester den Vorsatz haben sich öfters zu treffen. Ein Mal noch das Glas voll einschenken und zusammen anstoßen auf das Leben.
Ein Mal noch sagen: Ich hab dich lieb.
Und dann.
Wachst du auf. Eben noch so nah und jetzt wieder so fern.
Der Traum zu Ende und der Alptraum zurück.
Der Alptraum, der kein Traum, sondern das Leben ist, hier und jetzt.
Ohne die ganzen so sehr gewünschten letzten Male.
Mit dem Tod.
Der Tod ist ein Alptraum.
Er kann genau das.
Er kann aus jedem Traum einen Alptraum machen.
Und er tut es, wieder und wieder, jeden Tag aufs Neue.
Er kann aus dem schönsten Tag den Schlimmsten machen, aus dem normalsten Tag den Schlimmsten und aus dem Schlimmen Tag den Schlimmsten.
Der Tod kann jeden Traum mit Leichtigkeit in einen Alptraum verwandeln. Die Träume von der Zukunft, von dem, was alles noch kommen sollte. Die Träume von einem langen und glücklichen Leben, von einem Leben zusammen. Der Tod kann selbst den Traum von einem friedlichen und schmerzfreien Tod in einen Alptraum verwandeln.
Der Tod kann ein Alptraum sein.
Viele von euch sind im letzten Jahr in diesem Alptraum gewesen.
Viele von euch sind es schon vor viel längerer Zeit.
Von jetzt auf gleich hat sich alles geändert, weil der Tod gekommen ist.
Weil ein Mensch gestorben ist.
Ein Herzensmensch von euch.
Von jetzt auf gleich ist das Leben anders. Ob der Tod erwartet oder unerwartet kam. Es ist alles anders, weil der eine Mensch fehlt.
Und mit ihm alle Träume, von dem, was noch sein sollte.
Manchmal kommen diese Träume in unseren Träume nachts zurück. Kommen die Herzensmenschen in unseren Träume zurück und alle scheint so, wie es war.
Wachen wir auf, ist der Alptraum zurück. Weil es nur ein Traum war, sie werden nicht zurückkommen. Es wird nicht mehr so wie es war.
Wo bist du?
Warum hast du mich verlassen?
Der Tod kann ein Alptraum sein. Weil er unsere Träume nehmen kann und selbst die schönsten Träume der Erinnerungen so schmerzhaft werden lässt.
Weil es immer sticht. Jede schöne Erinnerung, sie sticht.
Und ein Auge lacht und ein Auge weint.
Der Tod sticht. Wieder und wieder.
Weil er nimmt ohne Rücksicht.
Weil es so furchtbar weh tut ohne Herzensmenschen zu sein!
Und.
Dennoch. Trotzdem. Gerade deshalb.
Möchte ich euch heute Abend sagen:
Träumt was Schönes!
Träumt, träumt, träumt.
Wir können dagegen-an-träumen. Wir können gegen den Alptraum anträumen. Wir können ihm den Stachel ziehen.
Weil wir träumen dürfen:
Mitten im Alptraum von „Wo bist du? Warum hast du mich verlassen?“
Leuchtet der Traum, der MEHR ist:
Mehr als das Ende. Mehr als der Tod. Mehr als der Alptraum.
Der Traum vom neuen Himmel. Vom guten Hirten.
Vom Abwischen aller Tränen, ganz sanft. Vom Zusammensein.
Der Traum, den Gott uns geschenkt hat und wieder und wieder schenkt:
Gott ist Mehr als der Tod.
Ja, es tut verdammt weh. Ja, sie fehlen uns so. Jeder Name.
Und mit jedem Licht, das hier heute für einen von ihnen leuchtet, mit jedem Licht, das ihr heute anzündet, leuchtet der Traum.
Dass Gott so viel weiter reicht als das Ende, das wir hier erkennen. Gottes Liebe ist ewig. Und Ewigkeit heißt, so hab ich es gelesen:
Weiterträumen ohne Aufwachen.
Wir würfen einmal weiterträumen. Ohne Angst vor jedem Alptraum.
Auf irgendeine wundervolle Art werden wir bei Gott sein, geborgen, geliebt, gehalten.
Und darum muss der Tod hier bei uns kein Alptraum bleiben.
Mit dem Traum von Gott können wir ihm den Stachel ziehen.
Weil wir glauben dürfen, dass Gott immer da ist und sein wird. Unverrückbar, unerschrocken.
Für uns.
Im Leben und im Tod.
In Ewigkeit.
Gott ist Größer.
Hier bei uns. Wenn Gott mitweint und trauert und wütend fragt: Wo bist du?
In jeder Kerze, in jedem Licht, bei jeder Erinnerung.
Und bei unseren Herzensmenschen.
Bei jedem Namen. Die Gott ruft und aufnimmt.
Gott bleibt Mehr.
Darum sage ich es euch heute Abend und jeden Abend auch zu meinen Kindern:
Träumt was Schönes!
Gott träumt mit.
Und einmal wird es sein, als träumten wir:
Und ich sah einen neuen Himmel
Und eine neue Erde.
Und ich sah die Stadt des Friedens
Herabsteigen aus dem Himmel, von Gott:
Eine Stadt aus purem Licht,
Glitzernd wie kostbare steine,
Funkelnd wie Kristall,
Mit Toren aus Perlen,
Und die Straßen aus reinem Gold,
Durchsichtig wie Glas;
Und ein Fuss lebendigen Wassers,
Heller als Kristall,
Durchströmt die Stadt,
Und an seinem Ufer
Standen Bäume des Lebens.
Und ich hörte rufen,
Eine mächtige Stimme:
Das ist das Haus Gottes,
Hier wird er mit den Menschen wohnen,
er, der Gott sein will.
Er wird alle Tränen
Abwischen von ihren Augen
Und der Tod wird nicht mehr sein,
Kein Seufzen und Stöhnen,
Kein Schmerz und keine Trauer wird mehr sein
Und auch die Nacht wird nicht mehr sein.
Und der auf dem Thron, der sprach:
Ich mache alles neu.
Amen.
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