...unterm Herzen
Mir liegt da was auf dem Herzen.
Sie seufzt und schaut auf den Tisch. Die Tischplatte könnte auch mal wieder einen ordentlichen Abschliff vertragen, diese ganzen Flecken. Sie streicht über die Platte und überlegt wann sie das mal machen könnten. Vor Weihnachten wird das wohl nichts mehr werden. Aber vielleicht danach? Wenn alle ein bisschen mehr Zeit haben? Sie hängt ihren Gedanken nach und wird auf einmal von der Seite angestupst.
Und weiter? Fragt er neben ihr. Und weiter was?
Na, du hast gesagt, dass dir was auf dem Herzen liegt. Jetzt würde uns ja schon interessieren was genau.
Sie schiebt die Gedanken an die Tischplatte beiseite und schaut wieder hoch. Da sitzen sie alle. Also fast alle. Eine ist natürlich wieder zu spät und nicht pünktlich zum Abendessen zuhause. Nie schaffen sie das hier alle mal zu sitzen und zu essen. Immer muss irgendjemand, irgendwo sein. Sie seufzt.
So schlimm? Fragt er von gegenüber besorgt.
Ja, sagt sie, so schlimm.
Dann ist wieder schweigen.
Also, wenn du jetzt nicht weiterredest, kann ich ja. Der 15-Jährige wartet gar nicht auf ihre Antwort und redet einfach weiter:
Ich habe nämlich auch was auf dem Herzen. Und zwar will ich nicht, dass wir an Weihnachten Fleisch essen. Oder Fisch. Also ich möchte ehrlich gesagt am Liebsten ein Veganer Weihnachtsessen, ich kann das nicht mehr. Die ganzen armen Tiere und die Massentierhaltung und jedenfalls ich möchte das den Tieren gerne zu Weihnachten schenken. Ein Essen im Jahr, für das sie nicht leiden müssen.
Mama, was ist vegan? Fragt die 5-jährige.
Vegan heißt wir essen Weihnachten keinen Kartoffelsalat mit Würstchen seufzt der Papa. Ausgerechnet dieses Jahr. Hättest du dir das nicht letztes Jahr überlegen können? Als, na du weißt schon. Er schaut zu ihr hinüber. Ganz vorsichtig.
Aber ich mag Würstchen! Ich will Würstchen! Brüllt die 5-Jährige und hat wütend auf den Tisch. Alle Gläser und Teller wackeln. Und ich will zum Krippenspiel! Ich will ein Engel sein! Mit Glitzerflügeln!
Sie seufzt.
Noch sowas auf dem Herzen.
Maus, wir fahren dieses Jahr nicht zum Krippenspiel. Das ist dieses Jahr nicht hier bei uns.
Ich will aber! Schreit sie wieder. Ich will Würstchen und Krippenspiel, sonst ist kein Weihnachten!
In diesem Moment geht die Tür und die 12-Jährige rauscht herein. In ihrer normalen Gewohnheit noch mit Jacken und Schuhen, die sie einfach in der Küche zu Boden fallen lässt. Es wird sowieso kein Weihnachten! Sagt sie und lässt sich auf ihren Stuhl fallen, nimmt sich ein Glas Wasser und trinkt.
Wieso wird denn kein Weihnachten? Will ihr Papa wissen.
Na wegen der Würstchen doch, und weil ich kein Engel sein darf! Kommt es von der Empörten Schwester.
Lässt du deine Schwester jetzt auch mal was sagen? Die seufzt nur und holt dramatisch Luft. In der Schule haben wir heute über Frieden gesprochen und vor allem über Krieg. Und dann hat uns die Lehrerin von ihrem Onkel in der Ukraine erzählt und von ihren Neffen und Nichten. Die können froh sein, wenn sie Weihnachten noch leben, hat sie gesagt. Und jetzt kann ich kein Weihnachten mehr feiern. Wieso darf ich das, wenn andere es nicht können? Das halte ich nicht aus!
Ihr Bruder nickt. Das ist doch eine gute Idee! Wenn wir einfach kein Weihnachten feiern, dann können wir sowieso was Veganes essen und keine vermisst die Würstchen.
ICH WILL ABER WÜRTSCHEN! Die Kleinste am Tisch fängt jetzt bitterlich an zu weinen und rennt aus der Tür.
Na super, sagt der Papa und legt den Kopf in die Hände. Das ist ja wieder ein großartiges Essen hier. Er schaut auf die andere Tischseite. Magst du uns jetzt auch sagen, was du auf dem Herzen hast?
Sie seufzt. Mehr kann sie grad nicht.
Mama, wir warten! Ihr Sohn trommelt auf dem Tisch herum. Ich muss dann auch gleich wieder weg. Können wir den Familienrat hier beenden bitte?
Was ist denn los Mama? Fragt ihre Tochter. Findest du den Krieg auch so furchtbar? Jetzt lasst Mama doch bitte einfach mal ausreden! Was hast du auf dem Herzen?
Sie schweigt. Eigentlich hat sie jetzt gar keine Lust dieses Thema auch noch anzuschneiden. Wenn allen sowieso schon so viel auf dem Herzen liegt. Warum auch noch das dazu legen?
Doch alle schauen sie weiter an. Keiner steht auf.
Sie seufzt noch einmal.
Naja wisst ihr. Es ist eben einfach das erste Weihnachten ohne, dass sie kommt. Ihr Platz am Tisch bleibt einfach leer. Und das ist einfach das erste Mal in meinem Leben. Ich kann mir da grad nicht vorstellen, wie Weihnachten werden soll mit diesem leeren Stuhl.
Ihr Herz wird schwerer und schwerer mit jedem ausgesprochenen Wort und sie schaut zu dem leeren Stuhl. Da rückt der andere Stuhl und er kommt zu ihr herüber und legt die Arme um sie.
Das wissen wir doch. Das geht uns doch allen so. Ich weiß auch nicht, wie das werden soll. Wenn sie den Kartoffelsalat nicht macht, wie soll der dann schmecken?
Der Sohn räuspert sich, doch dann verzichtet er lieber darauf zu erklären, dass doch dieses Jahr dann die beste Chance für ein neues, veganes Essen wäre. Seine Schwester kann nicht darauf verzichten: Na dann lassen wir es doch einfach besser! Überall ist Weltuntergang. In der Ukraine, bei den Tieren und hier bei uns zuhause auch. Dann lassen wir das doch lieber mit Weihnachten, wenn uns allen so viel auf dem Herzen liegt. Weihnachten ist doch eher was für fröhliche Menschen. Ohne Weltuntergang und schwere Herzen.
Nun sitzen alle da mit dem Weltuntergang am Küchentisch und dem bedrohlich wankenden Weihnachten. Jeder und jede malt sich aus, was sie stattdessen am 24. Dezember machen. Ohne Krippenspiel, ohne Kartoffelsalat mit Würstchen, mit den schrecklichen Nachrichten im Fernsehen und mit dem leeren Platz.
Sie kann jetzt nicht mehr und fängt leise an zu Weinen. Die Beiden halten sich aneinander fest und eine Träne tropft in die andere.
Die beiden großen Kinder schauen zu ihren weinenden Eltern und dann lieber wieder auf die Tischplatte.
Schöner Mist.
So ein Weltuntergang am 2. Advent mitten in der Küche.
TADAAA!
Die Tür geht mit einem lauten Knall auf. Alle zucken zusammen. Da bin ich! Schaut wie schön ich bin! Ich bin der perfekte Engel!
Tanzend rennt die 5-Jährige um den Tisch und hüpft dabei von einem Bein auf das andere. Sie hat sich aus dem Schrank ganz unten ihr altes Kostüm vom letzten Jahr gesucht. Zerknittert ist das weiße Kleid und bei den Flügeln fehlen schon ein paar Federn. Der Heiligenschein leuchtet irgendwie nur noch zur Hälfte. Und sie tanzt und tanzt. Singt dazu sehr laut: Glooooooooooooria!
Mama und Papa wollen sich schnell die Tränen wegwischen. Doch sie hat es schon längst gesehen. Ihr müsst nicht weinen! Ich bin doch der Weihnachtsengel. Wir kriegen das schon wieder hin! Sagt sie fröhlich und stellt sich kerzengerade an das Kopfende des Tisches.
Ihr Bruder lacht und hebt sie kurzerhand auf den Tisch hoch. Engel müssen doch fliegen, oder? Papa schaut kurz auf die Teller, die bei der kleinsten Engel-Bewegung zu Bruch gehen könnten und atmet einmal tief durch.
Also sagt der kleine zerknitterte Engel. Meine Freundin hat gesagt, dass das Krippenspiel nur in der anderen Kirche ist. Und dass es da absolut gar nicht weit hin ist. Sie sagt mit dem Auto dauert es nur eine Folge von Feuerwehrmann Sam bis man da ist. Und an Weihnachten könnten wir doch auch einen Spaziergang dahin machen. Dann sehen alle in den Straßen schon mein schönes Kostüm und wollte Oma nicht auch immer an Weihnachten spazieren gehen?
Nun muss Mama noch mehr weinen. Jetzt erst Recht. Ja, mein Schatz, das wollte sie immer. Und Opa hat immer gemeckert, dass er endlich essen will.
Einen kurzen Moment denken sie alle an denselben Streit, alle Jahre wieder.
Das klingt doch gut, meint die Schwester. So weit weg ist es nun wirklich nicht und wenn dieses Jahr alles anders ist, lass uns doch auch mal in eine andere Kirche. Ist das Krippenspiel nicht trotzdem dasselbe?
Na klar, sagt der kleine Engel und wackelt mit ihrem Heiligenschein. Engel gibt es sowieso immer, wer sagt denn sonst Hallo Julia! Das heißt Halleluja korrigiert ihr Bruder. Ist ja auch egal sagt Papa. Ich finde die Idee gut. Und vielleicht können wir ja wirklich ausprobieren, ob die Veganer Würstchen schmecken? Und mal auf das Ei im Kartoffelsalat verzichten? Sein Sohn schaut ihn begeistert an. Oma würde zwar wahrscheinlich sehr den Kopf schütteln, aber dafür machen wir den Tieren ein kleines Weihnachtsgeschenk.
Und dann machen wir einfach beim Veganuary weiter ist sein Sohn enthusiastisch.
Die Schwester ist noch nicht zufrieden: Aber was ist mit dem Krieg? Für den finden wir ja wohl keine schnelle Idee am Küchentisch.
Nein. Sagt Mama und schüttelt den Kopf. Sonst hätten das bestimmt schon ganz viele Menschen vorher gemacht. Frieden werden wir nicht alleine schaffen.
Moment mal, sagt da der 15-Jährige. Ich hab in der Schule so ein Plakat gesehen. Da kann man Turnbeutel packen für die Kinder in der Ukraine. Mit kleinen Weihnachtsgeschenken. Die werden dann in die Ukraine gebracht. Ist doch besser als nichts? Der kleine Engel nickt und überlegt welche Spielzeuge sie darein tun kann und haben wir nicht noch Schokolade und Kekse? Lass uns doch Kekse backen für die Kinder!
Alle nicken und überlegen, wann sie das noch schaffen sollen.
Da nimmt Papa die Einkaufstasche und sagt, wisst ihr was, es ist noch nicht spät. Ich fahre jetzt und hole die Zutaten und dann backen wir.
So machen sie es.
Den ganzen Abend backen sie und googeln vegan Rezepte für Weihnachten, der Engel übt und ruft immer wieder „Fürchtet euch nicht!“ Sie hören die Lieblingslieder von Oma und überlegen welchen Keks sie am Liebsten gegessen hätte.
Wie wäre es denn, sagt da Mama. Wenn wir Weihnachten einfach trotzdem Platz für Oma decken. So richtig schön. Mit Serviette und Teller und Besteck. Dann ist sie irgendwie trotzdem da.
Der kleine Engel umarmt seine Mama und sagt: Das ist sie doch sowieso. Fürchte dich doch nicht Mama!
Und so geht der Abend zu Ende. Die Küche ist ein einziges Chaos und die Tischplatte noch dreckiger als vorher. Sie streicht mit dem Finger darüber und seufzt.
Anders klingt das Seufzen. Nicht schwer. Sie seufzt das Schwere heraus.
Es liegt fiel auf dem Herzen. So einfach geht es nicht weg. Nicht hier im Kleinen und nicht draußen im Großen.
Und unter dem Schweren auf dem Herzen liegt mehr.
Unter dem Herzen liegt mehr, es macht nicht alles heil und es bringt Licht.
Sie richtet den Kopf auf und schaut in den Himmel.
Da sind dichte Wolken.
Und sie weiß, dahinter leuchten die Sterne.
Ganz Bestimmt.
Amen.
Ach, wie tröstlich. Dieses Jahr ist Weihnachten bei uns auch ganz anders. Meine Mutter ist gestorben, meine Schwägerin, mein Schwager, meine Freundin. Alles so schwer geworden. Und trotzdem kommt das Licht. Kann ich aber heute noch nicht sehen.
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